Härtling, Peter
aus Reutlingen, dem er mehrfach in Tübingen begegnet war und der ihn mit seinem Selbstbewußtsein beeindruckt hatte.
Wen sie liebe, müsse sie schon selber wissen, sagte Rike. Hölderlin erzählte stolz von einer zusätzlichen Einkunft. Auf Empfehlung Lebrets unterrichtete er einen jungen Schweizer Jurastudenten namens Philipp Emanuel von Fellenberg in Latein und Griechisch. Fellenberg, später ein fortschrittlicher Pädagoge, gründete die Erziehungsanstalt Hofwil und hielt freundschaftliche Beziehungen zu Goethe. Für die Reise hat er von Fellenberg zahlreiche Ratschläge und Anschriften bekommen.
Der Schwester versuchte er noch einmal wegen Camerer gut zuzureden.
Des isch net der, den i fürs Lebe möcht.
So entschieden hatte er die Schwester noch nicht erlebt. Sie kam ihm wie ein neuer Mensch vor. Mit solcher Gewißheit, fand er, sollte man mit sich umgehen. Sie war wie ein Geschöpf Rousseaus. Wenige Tage später schrieb er ihr aus Tübingen: »Und sieh! liebe Rike! hätt ich ein Reich zu errichten, und Mut und Kraft in mir, der Menschen Köpfe und Herzen zu lenken, so wäre das eines meiner ersten Gesetze – Jeder sei, wie er wirklich ist. Keiner rede, handle anders, als er denkt und ihms ums Herz ist. Da würdest Du keinen Komplimentenschnack mehr sehen, die Leute würden nimmer halbe Tage zusammensitzen, ohne ein herzliches Wort zu reden – man würde gut und edel sein , weil man nimmer gut und edel scheinen möchte, und dann würd es erst Freunde geben, die sich liebten bis in den Tod, und – ich glaube auch bessere Ehen und bessere Kinder. Wahrhaftigkeit! Gottlob! Schwester! daß wir Geschwister Anlage genug zu dieser herrlichen Tugend von unserer teuren Mutter geerbt haben. –«
Das ist ganz seine Stimme. Alles, worüber er in den letzten Monaten gegrübelt, mit Hegel und Neuffer und Stäudlin gesprochen hat, sammelt sich hier in einigen klaren Sätzen. Es sind dieselben Ideale, die ihm später als Erzieher vorschweben und mit denen er scheitert.
Johanna läßt sich von seiner kindlichen Vorfreude anstecken. Sie schickt ihn zum Schuster, damit er sich neue feste Schuhe für die Reise anfertigen lasse, näht selbst einen Überrock. Hölderlin ist gut ausgestattet. In einem kleinen Felleisen will er drei Hemden, drei Schnupftücher und drei Paar Strümpfe mitnehmen. Seinen Dornenstock hat er zu Hause vergessen; er bittet, ihm das unentbehrliche »Meuble« zu schicken.
Adressen haben die drei genug gesammelt. Jeder von ihnen hat Verwandte und Bekannte auf dem Weg; bei den Bedeutenderen, Pfarrern oder Gelehrten, wird man nur für ein oder zwei Stunden vorsprechen können. Von Köstlin war er Lavater empfohlen worden. Sein alter Lehrer stand bereits seit längerer Zeit in Verbindung mit dem berühmten Mann in Zürich. Der weiß, wenn er dich einmal angesehen hat, wer du bist, hatte Köstlin gesagt, als schildere er einen Magier.
Hiller schlug vor, so kenne er es von seinem Vater, an den größeren Orten einen Mann zu dingen, der wegkundig sei und sie bis zur nächsten Gemeinde führe und das Gepäck trage. Dann sind wir leichter zu Fuß und verirren uns nicht.
Isch des net z’ teuer?
Wenn wir’s unter uns dreien teilen?
Was sie, zumindest auf dem Hinweg, nicht konnten, da Hiller einige Tage zuvor von einem Verwandten mit nach Schaffhausen mitgenommen wurde, und Hölderlin und Memminger ohne den Initiator Hiller aufbrechen mußten. In Schaffhausen wollten sie sich treffen.
Am 14. April machten die beiden sich früh morgens auf den Weg. In drei Tagen wollten sie Schaffhausen erreicht haben. Über welche Stationen, weiß man nicht. Die kürzeste Strecke werden sie nicht gewandert sein, da sie auf Unterkünfte bei Verwandten oder Empfohlenen angewiesen waren, sicher häufig gastfreundliche Pfarrhäuser, Cousinen der Eltern, Onkel oder Tanten oder ehemalige Seminaristen, Stiftler.
Der angenehmste, bekannteste Weg führte bis Rottweil den Neckar entlang; über Rottenburg, Horb, Sulz und Oberndorf. Papiere brauchten sie für die Grenzposten ins Vorderösterreichische und in die Schweiz. Von Rottweil werden sie über Schwenningen und Donaueschingen nach Schaffhausen gegangen sein. Vielleicht hat sie manchmal ein Wagen mitgenommen, zwei junge, wohlanständige Herren unterwegs, die sich dem Fuhrmann als Tübinger Magister auswiesen und respektvoll behandelt wurden.
Ich kann, was mir gegenwärtig ist, nicht ausschalten, die Geräusche und Ansichten meiner Welt. Keine Straße, kein Weg war damals
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