Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
Loyal zu einem Monster zu sein und einen Engel zu verachten.
Seit wann war sie denn so ein Feigling? Wann war die Welt gefährlich geworden? Es musste irgendwann passiert sein, denn sie konnte, ja wollte nicht glauben, dass sie schon immer so gewesen war. Auch sie war als Mensch mit guten Absichten und einer Dosis Mut geboren worden.
Sie drehte das Kissen, es war feucht von Tränen und Schweiß. Die andere Seite war glatt und kühl, sie schloss die Augen und ließ die Gedanken wirbeln.
Sie war ein einziges Paradox. Irgendwie hatte sie aufgehört, sehen zu wollen, damit sie nicht sehen musste, was wehtat und gefährlich sein konnte. Aber je nebliger und undurchsichtiger die Welt wurde, desto ängstlicher wurde sie.
Es hatte eine Zeit gegeben, als die Angst nicht so laut pochte. Als sie die Schule beendete und in der Parfümerie Schmetterling zu arbeiten anfing. Da lag die Welt vor ihr, viele spannende Ereignisse warteten auf sie. Die Arbeit gab ihr Bestätigung, sie hatte erkannt, dass sie wirklich gut verkaufen konnte, eine unerwartete Selbstsicherheit stellte sich ein. Abends war sie oft mit Mona zusammen gewesen. Sie waren ins Kino gegangen oder ins Penny Lane zum Tanzen.
Die Zeit der Erwartungen hatte kaum ein Jahr gedauert, da war Carl in die Parfümerie Schmetterling und in ihr Leben getreten.
Wieder fühlte sie nichts als Selbstverachtung, wenn sie daran dachte, wie dankbar sie für sein Interesse gewesen war. Wie ihr Herz in seiner Gegenwart geschlagen hatte. Aber natürlich machte er ihr auch Angst, mit seiner weltgewandten Selbstsicherheit, seinen bestimmten Meinungen zu allem, der plötzlichen Kälte, wenn sie etwas tat oder sagte, was ihm nicht passte. Ihre Verzweiflung, wenn sie sich zu retten versuchte, indem sie ihren Fehler ausbügelte oder sofort zurücknahm, was sie gesagt hatte.
Sie holte tief Luft, sie wollte das Harte in der Brust, das ihr Atemnot verursachte, verscheuchen. Versuchte noch einmal, die huschenden Lichtflecke an der Decke zu fixieren, sie lauschte auf das Geräusch der Autos, alles konnte sie für einen Moment von ihren Erinnerungen ablenken. Julia neben ihr stöhnte leicht, Gisela setzte sich im Bett auf. Julias Haare lagen wie ein zerzauster Heiligenschein um ihren Kopf. Die Stirn war feucht. Sie streckte die Hand aus und streichelte vorsichtig Julias fieberheiße Wange. Die Berührung ließ die Tränen wieder fließen, sie sah so klein und zerbrechlich aus.
Noch nie hatte ihr etwas so wehgetan wie das Wissen, dass sie nicht für Julia da gewesen war, als diese sie so dringend gebraucht hätte.
Die Welt außerhalb der Wohnung war wie immer, es herrschte vorweihnachtliche Betriebsamkeit. Mit Adventssternen geschmückte Fenster strahlten hoffnungsvoll ins Dunkel hinaus. Nichts davon konnte das Gefühl von Unwirklichkeit aus Annikas Kopf vertreiben. Es war ein Zustand, der dem der Betrunkenheit nicht unähnlich war und nach dem sich Annika immer öfter zu sehnen schien. Jeden Abend trank sie Rotwein, verwischte die Konturen und ließ sich von der Absurdität in die Arme nehmen. Annika wusste, dass sie zu viel trank, aber sie redete sich ein, wenn es eine Zeit in ihrem Leben gab, wo sie zu viel Rotwein trinken durfte, dann jetzt.
Gisela brauchte es ebenfalls und trank mit. Sie rauchte wie ein Bürstenbinder und hatte sich einige Flüche angewöhnt, über die die anderen lachen mussten, weil sie aus ihrem Mund so falsch klangen.
Elisabeth Klinga hatte Annika und Gisela krankgeschrieben, Emma und Julia brauchten auch nicht in die Schule zu gehen. Nur Erik wollte die letzte Woche vor den Weihnachtsferien nicht verpassen. Er musste sich an dem kleinen Fetzen Normalität festhalten, den die Schule ihm bot.
Die Tage vergingen schnell mit all den praktischen Erledigungen. Noch einmal zur Polizei und ins Krankenhaus, ein Staatsanwalt rief an und wollte einen Termin vereinbaren. Und immer wieder alles erklären. Jedes Mal, wenn sie die Geschichte erzählen mussten, tat sie gleich weh. Julias Blick war nach innen gerichtet und abwesend, Giselas Tränen liefen ununterbrochen, wenn sie stockend in Worte zu fassen versuchte, was eigentlich unbeschreiblich war. Es war zu hässlich und zu eklig, gleichzeitig wurden die Geschehnisse jämmerlich und klangen albern, wenn man sie in Worte kleidete.
Eines Nachmittags gingen Annika und Emma in die Stadt, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen und eine Rezension abzugeben, die Annika trotz allem geschrieben hatte. Emma durfte zum ersten Mal mit in
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