Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
verwohnt, aber vielleicht tut sie es für den Anfang.«
»Ganz bestimmt, das wird wunderbar!«
»Mama!« Julia klang vorwurfsvoll, aber sie konnte die Freude, die dahinter lauerte, nicht verbergen. »Du bist ja betrunken!«
Gisela setzte das Glas mit einem kleinen Knall ab.
»Ist das wahr? Versprecht mir, es niemandem zu sagen!«
Annika räumte die Pizzakartons und die restliche Pizza ab. Gisela stand sofort auf, um zu helfen, aber Annika legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte, sie solle sitzen bleiben. Sie schenkte ein wenig Wein nach.
»Ruh dich aus.«
Gisela lächelte dankbar und legte sich aufs Küchensofa. Stopfte sich ein Kissen unter den Kopf und machte es sich gemütlich.
»Danke!«
Vielleicht war es der seltene Anblick seiner Mutter, die sich gemütlich auf einem Küchensofa ausstreckte, der Erik dazu veranlasste zu fragen, ob er fernsehen dürfe. Das durfte er, und bald hörte man aus dem Wohnzimmer den Jingle einer Unterhaltungssendung. Julia und Emma standen auch auf und leisteten ihm Gesellschaft. Plötzlich hob Gisela den Kopf und schaute Annika an.
»Weißt du, was ich gemacht habe?«
Annika drehte sich zu ihr um.
»Ich habe die Toilette mit Carls Zahnbürste geschrubbt.«
Gisela lachte so hysterisch, dass ihr die Tränen aus den Augen sprühten.
»Mein Gott, das ist bestimmt das Beste, was du seit Langem getan hast!«
»Ja, da hast du recht.«
Giselas sachliche Feststellung ließ sie erneut in Lachen ausbrechen. Plötzlich wurde Annika ernst und beugte sich über den Tisch und nahm Giselas Hände in ihre.
»Nein, Gisela, das Beste war deine Reaktion und dein Handeln heute! Dass du zu Julia gehalten und ihr geglaubt hast, dass du dich getraut hast, diesen Idioten zu verlassen!« Sie schaute Gisela an, der bei diesen Worten die Tränen in die Augen traten.
»Ich finde, das war ganz, ganz toll!«
Gisela ließ ihren Tränen freien Lauf, Annika streichelte ihr die Hand. Sie war runzelig und rau und schien viel älter zu sein als Giselas weiches Gesicht mit der glatten Haut.
Keine Eule, kein Wolfsgeheul war zu hören. Im Dunkel der Nacht hörte man nur das Knacken des Heizkörpers und das Atmen der schlafenden Kinder Erik und Julia. Ein friedliches Geräusch, das nichts über die wirklichen Ereignisse verriet. Gisela lauschte und dachte nach. Wenn man nur die Augen schloss und so tat, als wäre nichts, wenn man das Pochende und Störende in der Brust verdrängte, dann war es auch so, als wäre nichts passiert. Einen kurzen Moment spürte sie die Erleichterung, die fortdauern könnte. Sie zog und zerrte an ihr und wollte sie aus dem Dunkel der Nacht entführen, weit weg von dem Kummer und der Angst, die so schmerzten, dass das Herz beinahe aufhörte zu schlagen.
An der Decke sah sie die Autoscheinwerfer von der Straße vorbeifliegen, und sie versuchte, sich auf die Formen zu konzentrieren. Bevor sie sich schlafen gelegt hatten, hatte Annika gesagt, sie solle versuchen, sich der Angst zu stellen.
»Schau, ob sie eine Farbe oder eine bestimmte Form hat. Ob sie nach etwas riecht oder klingt. Mir hilft das Konkretisieren, es ist dann gleich nicht mehr so gefährlich.«
Gisela hatte nur freundlich genickt und nicht gesagt, sie glaube nicht an so einen Unsinn. Annika wollte ihr schließlich nur helfen. Außerdem drehte sich alles von dem vielen Rotwein, sie trank sonst nie mehr als ein Glas, und jetzt hatten sie und Annika zwei Flaschen getrunken.
Aber jetzt im Dunkeln, als die Monster aus dem Schrank gekrochen kamen, merkte sie, dass es tatsächlich half, sich die Angst als die gespiegelten Scheinwerfer an der Decke vorzustellen. Gelb und flüchtig, konturlose Formen, die ein unruhiges Muster bildeten, als wollten sie sie verwirren. Sie versuchte, die Lichtflecke an der Decke zu einem still stehenden Lichtkreis verschmelzen zu lassen. Als sie sah, dass es klappte, jubelte sie innerlich.
Sie erkannte, dass sie erleichtert war. Sie musste lachen, die Erkenntnis kam unerwartet. Aber doch, sie war erleichtert. Sie wusste, etwas in ihr war kaputtgegangen, aber es verschwand auch etwas, als die Welt zusammenbrach.
Ihre Wangen wurden nass von Tränen.
Sie hörte, wie die Toilettenspülung ging, das Bad lag neben ihrem Zimmer. Vielleicht konnte Annika auch nicht schlafen? Sie wurde ganz rot vor Scham, wenn sie daran dachte, wie sehr sie Annika abgelehnt hatte. Wie sie sich an ihrer Erscheinung gestört hatte. Wenn sie nur geahnt hätte. Das war typisch für sie, sich so zu täuschen.
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