Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
Stille, und Emma musste sofort an alle möglichen Katastrophen und Gefahren denken, dass es brannte, jemand gestorben war, bis sie schließlich zur Tür liefen und öffneten. An der Biegung der Treppe konnten sie gerade noch den Rücken eines Mannes sehen, der hinablief. Einen Moment lang wollte Annika ihm nachlaufen, aber sie ließ es bleiben, weil sie einsah, dass es sinnlos war. Gisela stand hinter ihr und starrte Annika und die offene Tür an. Keiner sagte etwas, aber an Annikas Blick konnte Emma ablesen, was Gisela gemeint hatte, als sie sagte, Carl würde sie nicht so einfach davonkommen lassen. Plötzlich sahen sie das Muster, klar und deutlich. Die Botschaft, dass es da jemanden gab, der sie nicht in Ruhe lassen würde. Sie standen in der Diele und spürten es alle. Gisela hielt Erik im Arm und versuchte, ihn zu trösten, Emma bemerkte Julia, die mit nach innen gerichtetem Blick an der Wand zusammengesunken war. Emma setzte sich neben sie, streichelte sie und sagte immer wieder ihren Namen. Annika setzte sich an die andere Seite und legte den Arm um sie.
»Julia, wir sind da. Du bist bei uns, bei Annika und Emma.«
Julia reagierte nicht, sie war weit weg in einer anderen Wirklichkeit.
Schließlich kam Gisela aus dem Schlafzimmer, wo sie Erik ins Bett gebracht hatte. Sie hockte sich vor Julia, nahm ihren Kopf in die Hände und hob ihn, damit sie ihr in die Augen schauen konnte.
»Julia, hör mir jetzt zu. Hier ist es nicht gefährlich, niemand kann dir etwas tun. Hörst du?«
Die Stimme war klar und fest.
Ein paar Sekunden passierte nichts, Julia war immer noch apathisch, aber Gisela hielt immer noch ihr Gesicht. Tränen liefen ihr über die Wangen, ihre Stimme brach, als sie sich vorbeugte und Julias Nase berührte.
»Ich werde dich nie, nie wieder im Stich lassen!«
Ein kleines Blinzeln, dann noch eines. Julias Augen waren geschlossen. Als sie sie wieder öffnete, war sie wieder da.
Am nächsten Abend rief Emma Cesar an. Sie hatten sich seit der Lucianacht vor zehn Tagen weder gesehen noch gesprochen. In ihr kämpften Schuld und Wut gegeneinander, und sie hatte das Gespräch immer wieder aufgeschoben. Er hatte ein paar Mal angerufen und nach ihr gefragt, aber sie hatte Annika gebeten, ihm zu sagen, sie sei nicht da.
Es hatte sich verändert, sie konnte die süße Sehnsucht, Cesar zu küssen, nicht mehr in sich finden. Der Gedanke an die pochende Wärme kam ihr absurd und peinlich vor. Sie wollte nie mehr so etwas fühlen.
Als sie schließlich Cesar anrief, klopfte ihr Herz, und sie war schweißgebadet.
Er war gleich am Telefon und freute sich, dass sie anrief.
»Emma! Ich habe mich so nach dir gesehnt! Schön, dass du anrufst!«
»Du, ich muss dir etwas sagen.«
»Ja.«
Er klang kurz und abwartend, als wüsste er bereits, was kommen würde.
»Ich glaube nicht, dass ich noch mit dir zusammen sein kann.«
Am anderen Ende war es still, Sekunden vergingen.
»Warum nicht?«
»Weil … ich weiß nicht … nach allem, was passiert ist.« Sie schniefte und versuchte, die Stimme wieder unter Kontrolle zu bekommen. »Ich schaff es einfach nicht, verliebt zu sein oder das zu fühlen, was ich fühle, wenn ich mit dir zusammen bin. Es fühlt sich so falsch an.«
»Aber warum? Du bist doch nicht schuld an dem, was passiert ist. Nichts wird besser, und Julia ist auch nicht geholfen, wenn wir Schluss machen.«
Cesars Stimme war dünn, und Emma fragte sich, wie er wohl aussah, wenn er weinte. Das hatte sie in der kurzen Zeit, die sie zusammen gewesen waren, nie gesehen.
»Doch, schon. Oder nein, aber das ist auch egal. Ich fühle mich im Moment so, ich kann einfach nicht unbeschwert verliebt sein.«
Sie schwiegen eine ganze Weile, dann sagte EmmaTschüs und legte auf.
Sie lief auf die Toilette, schloss ab und machte das Wasser an, damit niemand hörte, dass sie weinte. Sie saß auf dem Boden und hielt sich ein Handtuch vors Gesicht. Weinte und schämte sich für alles, was sie zusammen mit Cesar gefühlt und erlebt hatte. Hasste sich, weil sie so dümmlich-glücklich gewesen war, weil sie das Kribbeln in ihrem Körper zugelassen hatte, weil sie es sich gestattet hatte, auf Wolken zu schweben, während Julia am Abgrund hing.
Sie ging in ihr Zimmer und nahm das eingerahmte Bild, das über ihrem Bett hing, von der Wand. Es stellte einen Schutzengel mit langen lockigen Haaren dar. Er bewachte zwei kleine Kinder, die über eine morsche Brücke über einen gefährlichen Wasserfall gingen. Sie hatte dieses
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