Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
übernachten kann …«
Sie war verlegen, als ob ihr plötzlich bewusst geworden wäre, wie merkwürdig die Situation war. Da stand sie vor der Tür einer älteren Frau, zusammen mit deren Enkeltochter. Sie konnte nicht richtig erklären, warum sie darauf bestanden hatte, Julia zu begleiten. Irgendetwas an ihr strahlte Schutzlosigkeit und Angst aus.
»Ja, genau. Julia schläft heute hier bei ihrer Großmutter. Wie freundlich von dir, sie zu begleiten. Kommt rein, möchtest du eine Tasse Kaffee? Entschuldige, ich habe deinen Namen nicht richtig verstanden?«
»Birgitta, Birgitta Persson. Nein danke, ich möchte schnell nach Hause.«
Als sie die Tür hinter Birgitta Persson schlossen, wurde es still, Elin und Julia schauten sich an, ein kleines Lächeln zuckte in Elins Mundwinkeln, dann breitete sie die Arme aus und zog Julia an sich. Ein Duft von Vanille mischte sich mit dem Kaffeeduft in Elins kleiner Wohnung.
Julia sog Elins gute Gerüche ein. Es roch nach absoluter Geborgenheit. In Elins Armen, in Elins Wohnung konnte ihr nichts passieren. Ein Satz aus einem Lied, vielleicht war es ein Kirchenlied, tauchte in ihrem Kopf auf. Sie musste lächeln, obwohl die Augen vor Tränen brannten und jeden Moment überlaufen konnten. Hier ist so himmlisch schön zu sein.
Dann ließ Elin sie los und schaute ihr ernst in die Augen.
»Wie gut, dass du zu mir gekommen bist, meine Kleine! Hast du Hunger?«
Julia nickte und folgte Elin in die Küche. Elin tischte Brot, Butter, Käse und Leberpastete auf.
»Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ein kleines Mädchen wie du hat nachts nichts auf der Straße verloren, so viel weiß ich auf jeden Fall.«
Sie schenkte Julia ein Glas Milch ein, die aß und trank hungrig.
»Und wenn du absolut nicht nach Hause willst, dann hast du deine Gründe, nehme ich an …«
Ihr Blick war fragend, Julia hielt mitten im Kauen inne und schluckte.
»Ich würde … ich würde es gerne erzählen, aber es geht nicht. Es … macht irgendwie Stopp, wenn ich es versuche.«
Vielleicht sah Elin, wie Julias Augen glänzten, wie sie rot wurde vor Anstrengung und aufgewühlten Gefühlen.
»Bei Elin kann man nie wissen«, hatte Annika einmal gesagt, als sie von ihrer Kindheit erzählte. Sie hatten am Küchentisch gesessen und diesen Räuchertee getrunken, den Julia so mochte, weil er so sehr zu Annika gehörte. »Obwohl sie nicht sehr viel sagt, gehört sie zu den klügsten Menschen, die ich kenne.«
Elin schenkte sich noch eine Tasse Kaffee ein und setzte sich zu Julia an den Tisch.
»Du brauchst mir nichts zu erzählen, was du nicht erzählen kannst oder willst. Hauptsache, du bist hier und es geht dir gut.«
Julia nickte und blinzelte, um die Tränen zu verdrängen.
»Danke.«
Im Wohnzimmer richtete Elin Julia ein Bett auf dem grünen Sofa. Mit gemangelten Laken, die nach Waschmittel rochen, und einer dicken Zudecke, die so groß war, dass Julia fast darunter verschwand. Satt und müde lag sie da und spürte, wie der Schlaf sie übermannte. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit schlief sie ein in dem sicheren Wissen, dass sie die ganze Nacht ungestört schlafen würde. Bei Elin war das Tor zum Mondland verschlossen.
Elin betrachtete das schlafende Mädchen auf ihrem Sofa. Sie dachte an den dünnen Körper und das blasse Gesicht mit den traurigen Augen, so voller Wehmut. Irgendetwas an diesem Mädchen berührte sie sehr. Sie war so anders als ihr Enkelkind Emma, die immer plapperte und gleichsam tanzte, egal wohin sie sich bewegte. Das Mädchen auf dem Sofa hatte es schwer, daran bestand kein Zweifel.
Sie seufzte tief, ging in die Küche und rief Annika an.
Es wurde das längste Telefongespräch, das Elin je geführt hatte. Über eine Stunde telefonierte sie mit ihrer Tochter, die erzählte, warum Julia nicht zu Hause wohnen wollte. Als sie schließlich auflegten, hatte Elin das Gefühl, alles wäre schief. Sie starrte die vertrauten Möbel an, sie wurden plötzlich konturlos und unscharf. Lösten sich gewissermaßen in der dunklen Wohnung auf. Sie blieb lange so sitzen, konnte sich nicht bewegen, nicht einmal eine Strickjacke holen, obwohl sie vor Kälte zitterte. Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien. Sie stellte fest, dass es schön war, und gleichzeitig schämte sie sich. Das Gefühl überraschte sie, es war lange her, dass sie Scham empfunden hatte. Und doch verspürte sie genau das, als sie in die Schneeflocken vor dem Fenster starrte. Scham darüber, wie wenig sie über die
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