Häschen in der Grube: Roman (German Edition)
Dinge wusste, die in der Welt vorkamen. Scham über die Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit. Scham über ihr Unwissen und ihre Naivität.
Am anderen Ende der Stadt schaute Annika in den gleichen fallenden Schnee wie Elin, sie zündete sich eine Zigarette an, um sich zu beruhigen. Wie immer, wenn sie über Julia sprach, war sie wütend und traurig.
Als Elin gesagt hatte, Julia sei bei ihr, beschloss Annika, alles zu erzählen. Sie wusste eigentlich nicht, warum sie bisher geglaubt hatte, Elin heraushalten zu müssen, es war dumm von ihr zu meinen, sie müsste sie vor den unerfreulichen Einzelheiten schützen. Mein Gott, Elin hatte es geschafft, sie allein aufzuziehen, sie hatte hart für ein einigermaßen normales Leben für sie beide gearbeitet. Und doch hatte sie gehört, dass Elin schockiert war, sie hatte zwar schon so einiges in ihrem Leben gesehen und gehört, aber manche Dinge waren doch jenseits ihrer Vorstellungskraft. Und das hier war eine neue Stufe an Abscheulichkeit. Sogar Annika hatte nur mit Mühe verstehen können, was Julia im Einzelnen mitgemacht hatte. Sie zweifelte nicht daran, dass es geschehen war, keine Sekunde, aber es gab Dinge, die man einfach nicht an sich heranlassen wollte.
Sie massierte ihr Ohrläppchen, es tat weh, weil sie stundenlang den Telefonhörer dagegengedrückt hatte. Sie hatte den ganzen Tag mit allen möglichen Behörden gesprochen, mal freundlich, mal eher drohend.
Die Sozialarbeiterin, die sich um Julias Fall zu kümmern hatte, war weder besonders schlimm noch besonders gut. Sie hatte eine helle Stimme, hieß Lena Eriksson. Der Stimme nach zu urteilen, war sie noch nicht alt, vielleicht vierzig. Sie hatten fast eine Stunde geredet, und am Ende hatte Annika den Eindruck, dass die freundliche Stimme sich veränderte, dunkler und ernster wurde. Als hätte sie tatsächlich etwas verstanden, wenn auch nicht alles. Lena Eriksson hatte versprochen, zu sehen, was sie tun konnte, allerdings auch erklärt, der Grundsatz des Sozialamts sei es, die Kinder nach Möglichkeit in den Familien zu belassen, es sei denn, es lagen offensichtliche Mängel vor.
»Soweit ich verstanden habe, gibt es solche Mängel bei Julia nicht. Carl wohnt immer noch im Haus, und diese Familie hat bisher in jeder Hinsicht funktioniert.«
Annika hatte Luft geholt und bei sich gedacht, wenn es bei der Ermittlung um sie und Emma gegangen wäre, hätte man das Ganze bestimmt viel kritischer gesehen. Alleinerziehende, schlecht entlohnte Mutter in einer kleinen Wohnung, das war in den Augen einer Sozialarbeiterin gleich etwas ganz anderes als die ach so stabile Beziehung von Carl und Gisela, seine gehobene Position und die gelbe Jahrhundertwendevilla.
Sie hatte versucht, sich so sorgfältig wie möglich auszudrücken, sie war sich bewusst, dass dieses Gespräch möglicherweise entscheidend war für Lena Erikssons weiteres Vorgehen.
»Nein, äußerlich mangelt es bestimmt an nichts, auch wenn in dieser Familie eher Gisela für die Kinder zuständig war. Ich bin mir bewusst, dass von außen betrachtet alles sehr geordnet und gut aussieht, und ich glaube auch, dass Carl in der Lage ist, dafür zu sorgen, dass die Kinder saubere Kleidung und etwas zu essen haben. Aber das bedeutet nicht, dass er nicht auch in der Lage ist, sich wieder an Julia zu vergehen. Und Julia selbst ist offenbar so überzeugt davon, dass sie lieber abgehauen ist, als weiterhin zu Hause bei ihrem Vater zu wohnen.«
Sie schwieg und ließ die Worte auf Lena Eriksson wirken, die stumm zuhörte.
»Ich weiß nicht, wie viel du schon mit derartigen Übergriffen zu tun hattest, und ich verstehe auch, dass es einem schwerfällt, zu glauben, dass so etwas passieren kann. Wenn ich Julia nicht so gut kennen würde und sie nicht selbst es erzählt hätte, würde ich auch zweifeln. Es ist auch mir immer noch irgendwie unbegreiflich, aber ich weiß und kann versprechen, dass Julia sich niemals so etwas ausgedacht hätte. Im Gegenteil, sie hat geschwiegen und wollte nichts erzählen. Wenn die Ärztin nicht die Narben entdeckt hätte, würde sie immer noch schweigen.«
Lena Eriksson seufzte, was Annika als Zeichen dafür deutete, dass sie, wenn auch widerwillig, akzeptierte, was sie gehört hatte.
»Okay, aber ich kann dennoch nichts tun, bevor ich Julia nicht persönlich getroffen habe. Für mich als Sozialarbeiterin ist es sehr schwierig, bei so einer Geschichte Stellung zu beziehen, wenn es weder ein Urteil noch Beweise gibt. Aber zweifellos ist es
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