Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
wie er den Bericht formulieren soll, den er Rebinger versprochen hat. Swensen weiß, dass er ihn vor der Konferenz fertig haben muss, weil danach wahrscheinlich keine Zeit mehr bleibt. Doch es ist wie verhext. Wenn von außen etwas verlangt wird, fühlt er sich fast immer blockiert. Sein Vater kommt ihm in den Sinn der, ähnlich wie Rebinger, immer absolute Disziplin und Pünktlichkeit forderte. Swensen ist der Überzeugung, dass ihm die Unterordnung gegenüber der Obrigkeit im Elternhaus gründlich eingetrichtert worden war. Er erinnert sich noch an eine Situation, als er mal wieder den Satz ›Man kann ja doch nichts ändern‹ von seinem Vater hören musste. Er hatte ihn daraufhin angebrüllt: »Dich haben die da oben doch schon damals beschissen. Du bist sogar freiwillig für das braune Pack in den Krieg gezogen, obwohl du als Beamter vom Militärdienst befreit warst.« Da war der alte Mann aufgesprungen und wollte seine Wohnung verlassen. Nur seine Mutter war in der Lage gewesen, ihn zurückzuhalten. Später tat Swensen seine Äußerung leid. Er hatte die Nazi-Zeit schließlich nicht mitgemacht. Was konnte er schon wissen.
So ist das, wenn ich was schreiben muss, denkt Swensen. Erst kurz vor dem Konferenztermin gelingt es ihm endlich seine Gedanken in Worte zu fassen. Er druckt den Bericht aus und faxt ihn an Rebinger. Fünf Minuten später eröffnet Püchel die Besprechung.
»Kollegen, bevor wir beginnen, die neueste Entwicklung im Fall der kleinen Beatrix. Vor gut einer Stunde wurde das Mädchen in einem Waldstück bei Glücksburg tot aufgefunden. Wahrscheinlich ein Sexualdelikt. Das bedeutet für uns, dass wir unseren Mordfall sehr wahrscheinlich allein bis zum Ende durchziehen müssen. Ich installiere hiermit ab sofort die ›SOKO Watt‹. Swensen übernimmt die Leitung und hat das Wort.«
In der gesamten Runde herrscht betroffenes Schweigen. Püchel lässt die lähmende Situation allerdings nur einen kurzen Moment zu. Danach schaut er eindringlich auf Swensen. Als der sich nicht rührt, trommelt Püchel so lange penetrant auf die Tischplatte bis der sich erhebt und mit belegter Stimme beginnt.
»Ich kann natürlich verstehen, dass jetzt keinem nach Arbeit zumute ist.«
»Alles richtig, Kollegen!«, fährt ihm Püchel dazwischen. »Der Mord an einem Kind schockt sicher jeden von uns, aber wir arbeiten hier nicht bei der Heilsarmee. Noch haben wir selber einen Mord in unserem Ermittlungsgebiet an der Hacke. Also bitte Jan, fasse unsere bisherigen Erkenntnisse für alle noch einmal zusammen!«
Swensen nimmt einen Schluck Tee und lässt seine innere Stimme rezitieren, ich atme ein und fühle mich ruhig. Ich atme aus und fühle mich friedlich. Es wirkt, das Bild des toten Mädchens verschwindet. Er ist konzentriert.
»Am Dienstag, dem 14. November, wird Edda Herbst zum letzten Mal lebend vom Videothekbesitzer Hajo Peters an ihrem Arbeitsplatz gesehen. Wir bekommen am Samstag, dem 18., anonym Fotos von ihrer Leiche zugeschickt. Diese Fotos stammen von einem gewissen Sylvester von Wiggenheim, einem international bekannten Fotokünstler aus Hamburg, den Peter anhand seines Aufnahmestils erkannt hat. Dieser Fotograf schickt uns die Bilder, weil er mit seiner Geliebten in St. Peter abgestiegen ist und Angst hat, dass ihn seine vermögende Ehefrau vor die Tür setzt. Der Name der Geliebten ist Irene Hering, ist bei uns wegen Straßenprostitution aufgefallen und erhält demnächst einen Besuch von uns.«
Swensen klappt seine Mappe auf und zieht drei Fotos hervor, die er in die Runde reicht.
»Diese Fotos hat der Fotokünstler unterschlagen, diese und die gesamten Negative habe ich bei ihm in Hamburg sichergestellt. Was machen übrigens die Abzüge, Susan?«
»Noch nicht fertig, Herr Swensen. Das Labor ist überlastet!«, singt Susan Biehl. Die aufkommende Heiterkeit bringt Swensen aus dem Konzept. Mit einer Handbewegung versucht er die Konzentration wieder herzustellen. Als das nicht wirkt, klopft er mit dem Löffel an den Teebecher.
»Wie i hr erkennen könnt sind auf den Fotos Reifenspuren abgelichtet, die eindeutig von einem Geländewagen stammen. Herr von Wiggenheim hat sie in unmittelbarer Nähe der Leiche aufgenommen. Wir wissen in der Zwischenzeit, dass vieles im Todesfall Edda Herbst für Mord spricht. Die Fotos bezeugen, dass die Leiche wahrscheinlich mit einem Geländewagen ins Watt geschafft wurde. Das hilft uns allerdings auch nicht viel weiter, denn solche Autos gibt es mittlerweile hier an
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