Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
der Nordsee wie Sand am Meer. Außerdem können wir vom Reifentyp nicht automatisch auf den Fahrzeugtyp schließen.«
Swensen lässt seinen Blick über die Gesichter gleiten. Er spürt, was alle denken. Sie stecken fest. Es gibt nicht einen verwertbaren Schritt nach vorn. Kein Motiv, keinen Verdächtigen. Nur die Frage, warum wurde Edda Herbst ermordet?
»Edda Herbst führte ein unscheinbares Leben«, setzt Swensen seine Überlegungen laut fort. »Sie ist in der Nachbarschaft kaum bekannt, wird nicht vermisst. Als wir ihr Haus durchsuchen wollten, war die Haustür abgesperrt. Nur die Tür zum Hof war bloß zugezogen. Schlüssel wurden bei der Leiche nicht gefunden. Ihren früheren Freund Peter Stange hat Silvia in Wobbenbüllfeld aufgespürt. Er fällt als Verdächtiger aber wahrscheinlich aus, denn er ist seit drei Monaten verheiratet. Seine Frau hat eine sichtbare Kugel. Nach eigener Aussage hat er Edda Herbst schon über sechs Monate nicht mehr gesehen.«
»Eine Frage!«, meldet sich Rudolf Jacobsen. »Ich hab noch nicht kapiert, warum wir bei Edda Herbst mit einem Mal von Mord ausgehen?«
»Kannst du auch noch nicht wissen Rudolf. Das haben wir selbst erst gestern Abend von den Kieler Kriminalmedizinern erfahren«, trägt Swensen vor. »Eins ist sicher bestätigt, die Frau ist ertrunken, aber nicht in der Nordsee. Sie hatte ausgeprägte Leichenflecken auf ihrer Vorderseite. Die bilden sich, wenn jemand nach dem Tod lange Zeit in derselben Stellung liegt. Wer im Wasser treibt, kann keine Leichenflecken ausbilden. Daraus schließen die Mediziner, dass die Leiche nachträglich bewegt wurde. Die Tote ist vermutlich ins Watt gebracht worden und dann ist sie mit der nächsten Flut dem Krabbenkutter ins Netz geraten. Der Täter wollte bestimmt einen Unfall im Meer vortäuschen.«
»Gibt es Hinweise auf eine Sexualtat?«, fragt Peter Hollmann.
»Die genauen Ergebnisse bekommen wir in den nächsten Tagen.«
Die entstehende Pause nutzt Silvia Haman um das allgemeine Gefühl laut auszusprechen.
»Ich schätze wir hängen fest!«
»Das sehe ich genauso!«, bestätigt Swensen. »Aber das ist nicht ungewöhnlich, zu einem so frühen Zeitpunkt. Außerdem sind viele Tage verstrichen, bevor wir die Leiche gefunden haben. So schnell gelingt es unter solch komplizierten Bedingungen kaum einen Zugang zu einem Fall herzustellen. Das Wichtigste ist, dass wir uns nicht zu früh auf etwas fixieren und die Ermittlungen weiterhin offen halten. Doch, was wir tun können, sollten wir auch tun. Peter, du schnappst dein Team und kämmst noch einmal das Haus von Edda Herbst durch. Lass keinen Raum aus, stell’ alles auf den Kopf!«
Sie beenden die Sitzung. Doch der allgemeine Aufbruch kommt bereits im Flur wieder zum Stocken.
»Bin ich froh, dass wir im Moment nicht in Flensburg ermitteln müssen!«, wirft Silvia Haman in die Runde.
Das Gesicht von Jacobsen versteinert sich. Sein Blick streift mit unübersehbarer Verachtung die Kollegen. Dann murmelt er kaum hörbar: »Wenn die das Schwein da oben kriegen, sage ich nur: Rübe runter!«
Silvia schlägt sich fassungslos mit der Hand an die Stirn.
»Oh, Gott, Rudolf! Verschone uns bloß mit diesem wüsten Gedankengut!«
»Du musst dich ja gerade melden!«, zischt Jacobsen zurück. »Gerade du, als Frau. Denk’ doch mal nach! Da hat jemand ein kleines, unschuldiges Mädchen abgeschlachtet!«
»Unschuldig, das ist doch romantischer Quatsch! Der Mensch wird gut geboren und nur die Gesellschaft macht ihn böse!«, mischt Hollmann sich in das Gespräch. »Das ist das Märchen von den unschuldigen Kindern. Ich bin der Meinung, dass der Mensch schon als Bestie geboren wird.«
»Ich hab im Fernsehen mal diesen Klassiker ›Bestie Mensch‹ gesehen. Da ging es eindeutig um Erwachsene und nicht um Kinder, lieber Peter. Als Bestie geboren, so ein Schwachsinn!«, faucht Jacobsen dazwischen.
»Und wo kommt das Böse her? Das liegt hier nach unserer Geburt wohl irgendwo rum. Lass doch mal alle diese unschuldigen Menschen hier nur drei Monate frei entscheiden und sie werden mit ihren Gesinnungsgenossen in kürzester Zeit unsere gesamte Zivilisation dahinmeucheln. Nur die Gesetze unserer Gesellschaft halten alle diese geborenen Unschuldslämmer im Bann, und wir, die Polizei, die diese Gesetze durchsetzen. Schaut euch doch um womit wir es täglich zu tun haben.«
Silvias Augen funkeln bedrohlich.
»Ja, ja! Wir sind alle kleine Bösewichter und wollen die Welt vernichten, oder?«
»Zumindest
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