Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
sind wir nicht automatisch gut, liebe Silvia!«, entgegnet Stephan Mielke. »Peter hat schon recht. Der Mensch ist von Natur aus egoistisch. Er braucht Anleitung und Erziehung, um aus ihm auch einen guten Mitbürger zu machen. Moral ist eine Errungenschaft unserer Zivilisation.«
»Jan, nun sag’ du doch mal was!«, Silvias Stimme klingt schrill.
»Was denn? Braucht i hr einen Schiedsrichter, der für e uch entscheidet, ob der Mensch von Natur aus gut oder böse ist?«
»Nein, deine Meinung würde mir genügen!« stichelt Silvia.
Swensen merkt, wie sich die Blicke auf ihn richten. Er fühlt sich mit einmal zutiefst unwohl.
»Ich glaube in e urer Diskussion prallen einfach nur liberale und konservative Meinungen aufeinander.«
»Ja und? Vertrittst du nun liberales oder konservatives Gedankengut?«, legt Peter Hollann nach.
Jetzt war es passiert. Er hätte lieber die Klappe halten sollen. Die Nachricht über das tote Mädchen aus Glücksburg machte ihm schon genügend zu schaffen. Während der Sitzung hatte er wieder die alten Bilder vom Mord im Sternschanzenpark gesehen. Und jetzt stehen die Kollegen vor ihm und wollen kluge Sprüche.
»Ich finde beide Meinungen haben ihre Stärken und ihre Schwächen«, beginnt er um Zeit zu gewinnen. »Die Lösung liegt auf einer übergeordneten Ebene. Die Trennung zwischen Gut und Böse ist nämlich eine Täuschung. Das Gute und das Böse ist nichts, was unabhängig von uns selbst existiert.«
Als ihn alle mit großen Augen anschauen spürt er, dass seine Äußerungen für die Kollegen wohl etwas zu abgehoben geraten sind. Er ahnt, dass er nur keine Schwäche zeigen wollte. Wenn er vor sich hin philosophieren kann, sieht er zumindest keine Bilder von toten Kindern.
Ich muss das hier irgendwie beenden, denkt er. Ein kleiner Scherz und dann nichts wie weg.
»Mit anderen Worten«, sagt er mit einem Grinsen, »machen wir doch einfach unsere Arbeit gut und alles wird gut!«
Mit einem befreienden Gelächter geht die Gruppe auseinander.
Wahrscheinlich ist der Mensch immer dann wirklich gut, wenn er lacht, denkt Swensen. Doch das behält er für sich.
* * *
Als Swensen in seinem Büro sitzt, geht er die Szene auf dem Flur noch einmal durch. Die Rolle, die er vor den Kollegen spielen musste, ist ihm unangenehm. Ihm wird klar, er wollte allen nur weismachen, dass er über den Dingen steht. Swensen der alte Hase mit buddhistischem Anstrich ist ungerührt von allem, was ihn ängstigt, verwirrt und quält. Er hat sein altes Trauma überwunden. Er kann den Tod eines kleinen Mädchens nüchtern und emotionslos betrachten.
Swensen, Swensen, denkt er. Anstatt mit selbstlosen Weisheiten deinen Nächsten zu bekehren, wolltest du doch nur deinem eigenen Ego schmeicheln.
Und immer wenn ihm seine egoistische Haltung bitter aufstößt, ist er davon überzeugt, dass er diesen Widerspruch von seinem Vater übernommen hat.
So schließt sich der Kreis. Papa ist schuld!
Er erinnert sich, mal in einem Buch gelesen zu haben, dass die meisten Menschen nicht bereit sind, ihre gegenwärtigen Meinungen um nur 5 % zu ändern.
Manchmal könnte man zu dem Schluss kommen, dass das ganze Leben nur in alten Mustern dahinplätschert. Du wolltest alles anders machen als deine Eltern und machst doch nur dasselbe. Du bist zu einem buddhistischen Meister gegangen um Weisheit zu finden. Doch deine alten Muster sind stärker. Sie sind eben über Generationen an dich weitergegeben worden, vom Großvater, vom Vater. Und wenn du am Ende einmal zurückschaust, wirst du in deinem Umfeld nicht mal 5 % bewegt haben.
Auch dieses Muster kennt er genau. Wenn eine Ermittlung nicht richtig läuft, sieht er die gesamte Welt negativ. Er weiß, in so einem Zustand klafft bei ihm eine dicke Lücke zwischen Wirklichkeit und Wahrnehmung.
»Das ist der Zeitpunkt den großen Irrtum zu erkennen!«, sagte Lama Rhinto Rinpoche ihm damals immer, wenn er ihn mit dieser negativen Ausstrahlung erwischte. »Würden sich die Dinge immer gemäß unserer Erwartungen darstellen, dann wüssten wir niemals, was wir unter einer Illusion verstehen sollten.«
Parallel zu seinen Gedanken sieht Swensen nochmals die Vorderfront seines Elternhauses zusammenbrechen. Verlangsamt, wie in Zeitlupe, stürzen die Ziegelsteine in eine sich auftürmende Staubwolke. Er taucht ein in den Nebel. In der Ferne hört er ein rhythmisches Piepen. Da liegt sein Vater vor ihm im grünen Krankenkittel mit Schnüren und Schläuchen. Er ist ohne Bewusstsein.
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