Hätschelkind: Der erste Fall für Jan Swensen
Spielen einen anderen. Und damit es Spaß bringt, muss das ›Eine‹ in die Rolle des anderen schlüpfen und einfach vergessen, dass es auf beiden Seiten spielt. Ich spiele den Kommissar und der andere den Mörder. Wir wissen nichts voneinander. So bleibt das Spiel interessant. Ich glaube, das ist es, was wir alle hier machen.«
»Aber so ein Spiel ist doch nicht lustig!«
»Jedes Spiel bringt neues Leiden in die Welt. Es gibt aber auch gleichzeitig eine Erlösung. Ich, der Spieler, erkenne, dass alle Gegensätze, die uns trennen, nur eine Illusion sind. Das ›Du‹ und ›Ich‹ existiert nicht. Das Gut und Böse existiert nicht. Es gibt keinen Kommissar und keinen Mörder. Der allumfassende Geist ist ein ewiger Spieler, der das alles hervorbringt. Es macht eben keinen Spaß allein zu essen.«
Swensens braune Augen glänzen, schauen Anna Diete mit Überzeugung an. Sie schaut verschmitzt zurück.
»Vielleicht hat dein Geist auch einfach nur eine narzisstische Persönlichlichkeitsstörung.«
Sie zieht ihre schmalen Lippen zu einem breiten Grinsen auseinander. Swensen sieht sie einen Moment fassungslos an, lacht dann aber so herzhaft los, dass Anna nach kurzer Zeit mit einstimmen muss. Es dauert mehrere Minuten, bis sie sich wieder einkriegen. Tsang Hu tritt lächelnd an ihren Tisch, fragt mit schrillen Obertonlauten, ob es geschmeckt hat. Sie bejahen und lassen sich die Rechnung bringen. Am Eingang wartet schon ein Kellner mit den Mänteln und zwei Glückskeksen. Anna bricht ihren sofort auf und liest Swensen ihren Spruch vor: »Wenn der Adler hungrig ist, werden kleine Vögel sein Futter. Wohl eher eine Weisheit für spielsüchtige Kommissare.« feixt sie und reicht ihm den kleinen Papierstreifen. Swensen nimmt ihn grinsend, kann die kleine Schrift aber nicht entziffern. Während er seine Lesebrille aus der Manteltasche fingert, wird er auf eine Stimme aufmerksam, die er kennt, aber nicht sofort zuordnen kann. Sie kommt von einem Tisch in seinem Rücken.
»… beträgt über 1400 Mitglieder in 20 Ländern. Ogiwara Kojima ist z. B. der Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Tokio, übrigens ein überaus sympathischer und hochintelligenter Mann. Er hat mich gerade persönlich eingeladen, einen Vortrag vor japanischen Storm-Fans zu halten, wo es speziell um das Bonnixsche Epitaph in der Drelsdorfer Kirche gehen soll, die bei Storm den Anstoß für seine Novelle ›Aquis submersus‹ gegeben hat.«
Schon während er seinen Körper leicht wendet, wird ihm klar, dass es sich um die Stimme von Karsten Bonsteed handelt. Und er behält recht. An dem Tisch gleich hinter ihm sitzt der Mann, den er gerade noch im Storm-Museum vernommen hat. Ihm gegenüber sitzt Silvia Haman, die Swensen im selben Moment wahrnimmt, wie er sie. Sie wirkt erschrocken, nickt aber kurz mit dem Kopf. Jetzt entdeckt auch Bonsteed Swensen und winkt zu ihm rüber.
»Hallo! Die Welt ist klein, Herr Kommissar!«
»Besonders in Husum!«, blockt Swensen die aufdringliche Art ab.
»Sie sind doch hoffentlich nicht verärgert, dass ich Ihre reizende Kollegin für einen Abend entführt habe?«
Swensen versucht seine Verlegenheit zu verbergen. Er bemerkt, dass auch Silvia Haman diese Begegnung sichtlich unangenehm ist. Das Schweigen zieht sich unerträglich in die Länge.
»Ja, dann noch einen schönen Abend!«, wünscht er und weiß sofort, dass sein Satz die Situation nicht gerade auflockert. Als er sich wieder Anna zuwendet, kann er den Unmut über die merkwürdige Szene förmlich auf ihrem Gesicht ablesen. Vor der Tür im Treppenerker werden beide von einem eiskalten Dunst empfangen, der vom Hafen heraufzieht. Die Stufen sind mit Rauhreif überzogen. Sie setzen vorsichtig ihre Schritte. Anna rutscht und stützt sich auf ihren Begleiter, obwohl ihr Ärger auf ihn nicht zu übersehen ist.
»Was war denn das da drinnen gerade?«
»Das war Silvia Haman, eine Kollegin.«
»Und du lässt mich da einfach dumm rumstehen, ohne mich vorzustellen?«
»Sorry, aber das war eine etwas pikante Situation für mich. Sie saß da mit Karsten Bonsteed, Kargels Stellvertreter von der Stormgesellschaft.«
»Und was stört dich daran?«
»Dieser Bekannte ist nun mal ein Zeuge in einem Mordfall. Den kann sie zwar auf der Inspektion vernehmen, mit Protokoll und Unterschrift, aber den kann sie nicht einfach privat treffen. Wenn der Chef das erfährt, geht der hoch wie eine Rakete!«
»Aber der braucht das doch nicht zu erfahren!«
Swensen hat mit
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