Hahn, Nikola
Ihre Geschichte, Kommissar? Es
fügte sich überhaupt nichts! Es war, als habe man ihm eine Kiste loser Blätter
vor die Füße gekippt, und bei jedem Versuch, das Durcheinander in die richtige
Reihenfolge zu bringen, kam etwas anderes heraus.
Kapitel
12
Drittes Morgenblatt
Mittwoch, 2. März 1904
Frankfurter
Zeitung und Handelsblatt
Sozialdemokratische
Versammlung. Das Thema »Russenschande«
und »Börsendemokratie« wurde gestern in einer mäßig besuchten
sozialdemokratischen Versammlung in der Concordia behandelt. Herr Döllmann war
immer, wie er erzählte, gegen ein Paktieren mit den Demokraten, gegen diese
»verkappten Spitzbuben, die den Massenmord im Sack tragen, diese Halunken.« Ihm
ist die Demokratie eine »schmutzige Sumpfpflanze«, die mit Stumpf und Stiel
ausgerottet werden muß, und er hält die Demokraten für »Gesinnungslumpen,
nicht wert, daß sie die Sonne bescheint.« Unter stürmischem Beifall schloß der
temperamentvolle Redner: »Uns Arbeitern gehört die Welt, nicht denen, die
Speichel lecken und den Ministern die Fußsohle küssen.« Der Vorsitzende bemerkte,
der Vorredner habe zwar sachlich recht, man möge aber doch so scharfe
Ausdrücke unterlassen und den Gegner anständig bekämpfen.
Der
Raubmord auf der Zeil. Der Möbelträger Bruno
Groß wurde vom Polizei ins Untersuchungsgefängnis abgeliefert. Unterdessen
nehmen die Nachforschungen der Polizei ihren Fortgang. Denn man muß immer mit
der Möglichkeit rechnen, daß Groß nicht der Täter ist, und es ist darum
notwendig, unausgesetzt den vorhandenen Spuren nachzugehen und neue ausfindig
zu machen.
K ommissar Biddling ist hoffentlich nicht meinetwegen gegangen«,
sagte Laura, als Heiner Braun in die Küche zurückkam.
Er
schüttelte den Kopf und deutete auf den Apfelweinkrug. »Möchten Sie ein Glas?«
»Gern.
Herr Biddling glaubt also tatsächlich, daß Fräulein Zilly etwas mit dem Mord an
Herrn Lichtenstein zu tun hat?«
Heiner
schenkte ihr aus. »Es gibt gewisse Anhaltspunkte, die das zumindest nicht als
völlig aus der Luft gegriffen erscheinen lassen.«
Laura
lachte. »Das haben Sie aber hübsch formuliert.«
»Nun
ja...«
»Wenn
Sie Dinge, die Ihnen Herr Biddling anvertraut hat, nicht weitertragen möchten,
verstehe ich das.«
»Zillys
Akte läßt viele Fragen offen«, sagte Heiner. »Zum Beispiel, was ihren
Aufenthalt in Stuttgart angeht. Oberwachtmeister Heynel hat seine Ermittlungen
offenbar nicht besonders gründlich vorgenommen.«
»Bestimmt
hatte er dafür einen Grund.«
»Es
fragt sich nur, welchen.«
»Wären
weitere Untersuchungen erforderlich gewesen, hätte Herr Heynel sie sicher
durchgeführt!«
»Sein
Leumund scheint Ihnen wichtig zu sein.«
Laura
betrachtete ihr Glas. »Wie kommt ein Literat dazu, über Homöopathie zu
schreiben?« Als sie Heiners verwirrte Miene sah, fügte sie hinzu: »Sie
erwähnten vorhin einen Stoltze. Ich habe den Namen noch nie gehört.«
»Sie
kennen Frankfurts berühmtesten Poeten nicht?«
»Ich
dachte, das sei Goethe?«
Heiner
lächelte. »Friedrich Stoltze war Mundartdichter, aber auch ein passionierter
Journalist mit Humor und einer Vorliebe für antipreußische Schmähreden. Seine
Zeitschrift Latern konnte es durchaus mit dem Berliner Kladderadatsch aufnehmen. Er starb 1891. Sollten Sie vorhaben, sein Geburtshaus zu
besichtigen, müssen Sie sich beeilen. Es steht einer Straße im Weg.«
»Man
reißt es einfach ab?«
Heiner
nickte. »Lesen Sie Stoltze, und Sie werden mehr über diese Stadt und ihre
Bürger erfahren als in einem Dutzend Reiseführer. Aber seine Geschichten
helfen auch, Zugereiste zu verstehen.«
»Bitte?«
»Nun,
zum Beispiel die Sache mit der Homöopathie: Der arme Jakob sah recht blaß aus,
und weil man dachte, er müsse schlimm krank sein, wurde er von einem Arzt zum
nächsten geschickt. Ein berühmter Frankfurter Homöopath gab ihm schließlich ein
Staubkorn und trug ihm auf, es an einen Stein zu binden, vor Hanau in den Main
zu werfen und nach erfolgter Rückkehr zweimal täglich am Fahrtor ein Glas
Mainwasser zu trinken.«
»Hat's
geholfen?« fragte Laura schmunzelnd.
»Genausowenig
wie Jodmilch und Kaltwasserbäder. Erst, als er ein hübsches Mädchen
kennenlernte, wurde er gesund. Die Liebe war's, die ihm so fehlte.«
»Eine
nette Geschichte, ja.«
»Martin
Heynel war ein blitzgescheiter Junge, der schon als Achtjähriger wußte, was er
nicht wollte: einen Tag länger als nötig im Citronengäßchen
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