Hahn, Nikola
sprang aus dem Bett und zog den Vorhang zurück. Das Fenster
war zugefroren und ließ sich schwer öffnen. Eiskalte Luft strömte herein. Die
Fassade des gegenüberliegenden Hauses war nur ein paar Armlängen entfernt.
Hinter einem Fenster saß eine alte Frau. Laura nickte ihr zu, aber sie
reagierte nicht. Die Sonne schien; zumindest vermutete sie das, denn mehr als
einen Streifen blauen Himmel konnte sie über den Dächern nicht erkennen. Aus
dem Gäßchen drang Geplapper herauf.
Sie
ließ das Fenster offen, bis sie sich angekleidet hatte. Als sie das Bett
aufschüttelte, fiel ihr Blick auf das Album. Sie wagte nicht, die leeren Seiten
aufzuschlagen und verstaute es in der hintersten Ecke des Schranks.
Auf dem
Weg nach unten wurde ihr zum ersten Mal bewußt, wie dunkel das Haus war. An der
Wand flackerte ein Lämpchen. Die Stube war leer. Auf dem Tisch stand ein
Gedeck; der Brotkorb war verhüllt, das Frühstücksei unter einem gehäkelten
Hühnchen versteckt. Heiner Braun saß in der Küche und schälte Kartoffeln. Es
roch nach frisch gebrühtem Kaffee.
»Guten
Morgen«, grüßte er lächelnd.
»Ich
glaube, guten Mittag wäre angebrachter«, entgegnete Laura. »Ich habe
fürchterlich verschlafen.«
Heiner
ließ die Kartoffel in eine Blechschüssel mit Wasser fallen. »Warum? Heute ist
Ihr freier Tag, oder?«
»Meine
Mutter hätte einen hysterischen Anfall bekommen, hätte ich es je gewagt,
sonntags eine Minute länger als bis um halb sieben im Bett zu bleiben.«
»Da
haben Sie ja Glück, daß ich nicht Ihre Mutter bin.«
Laura
lachte und setzte sich. War die Küche seit vorgestern geschrumpft? Oder war sie
so hungrig und müde gewesen, daß sie nur Augen für Helenas Zitronensuppe gehabt
hatte? Kein Winkel des kleinen Raums war ungenutzt. In der Ecke neben der Tür
stand ein Schränkchen, rechts und links vom Herd je eine Stellage mit Tellern
und Tassen, Töpfen und Backformen.
Darüber
hingen Pfannen und Deckel in einfachen, an die Wand genagelten Schlaufen. Die
winzigen Fenster gingen zum Hof und zur Straße und ließen kaum Licht herein.
Über einem alten Gossenstein war ein Halter für Sand, Seife und Soda angebracht.
In einem Holzregal neben dem Tisch standen Steintöpfe mit Mehl, Zucker, Gries
und Grütze.
Heiner
nahm eine neue Kartoffel und zeigte zum Herd. »Sie möchten sicher eine Tasse
Kaffee? Ihr Frühstück steht in der Stube.«
Laura
beobachtete, wie geschickt er das Schälmesser führte. Sie war sich sicher, daß
er diese Arbeit nicht zum ersten Mal tat. »Wo ist denn Ihre Frau?«
»Helena
geht es nicht gut. Sie daran zu hindern, das Bett zu verlassen, ist
schwieriger, als ein paar Kartoffeln zu schälen.«
Laura
fühlte sich ertappt. »Entschuldigen Sie.«
Er
lachte. »Warum?«
»Es ist
gewöhnungsbedürftig, einen Mann Kartoffeln schälen zu sehen.«
»Na ja,
ich kann mir auch Schöneres vorstellen.« Er ließ die letzte Kartoffel ins
Wasser plumpsen und wischte sich die Hände ab.
»Was
fehlt Ihrer Frau denn? Vielleicht kann ich helfen?«
»Ich
glaube, sie hat sich ein bißchen überanstrengt.«
»Soll
ich mal nach ihr sehen?«
»Im
Moment schläft sie. Ich hoffe, bis zum Mittag geht es ihr wieder besser.«
»Du
liebe Zeit! Ich habe vergessen, Ihnen auszurichten, daß Kommissar Biddling um
halb neun vorbeikommt.«
Heiner
grinste. »Was will er denn?«
»Es
geht um Fräulein Frick. Mehr weiß ich nicht.«
Sie
hörten die Hausglocke. Heiner zog seine Uhr aus der Westentasche. »Ein Lob der
preußischen Pünktlichkeit!«
Er ging
hinaus und kam kurz darauf mit Richard Biddling zurück. Der Kommissar sah müde
aus. Er gab Laura die Hand und nahm so selbstverständlich am Küchentisch Platz,
als sei er hier zu Hause. »Haben Sie zufällig einen Kaffee da, Braun?«
Heiner
schenkte ihm eine Tasse voll ein. »Gibt es einen Grund, warum Sie am frühen
Morgen schon so miesepetrig aussehen?«
Richard
probierte den Kaffee. »Früher Morgen? Es ist bald Mittag! Aber was will man von
einem Pensionär erwarten.«
»Sie
auch?« fragte Heiner. Laura nickte, und er füllte zwei weitere Tassen. »Wie gestaltet
sich die Zusammenarbeit mit meinem Nachfolger?«
»Nach
zweiundzwanzig Jahren Zusammenarbeit mit Ihnen kann es nichts Schlimmeres mehr
geben, Braun.«
»Das
beruhigt mich. Fräulein Rothe sagte mir, daß Sie eine meiner Mieterinnen
belästigen wollen.«
»Wie
viele haben Sie mir denn anzubieten?«
»Eine
Näherin, eine Kontoristin und Anna Frick. Die Näherin wohnt im zweiten
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