Hahn, Nikola
genug zusammen, als
daß ich behaupten könnte, jeden Winkel seiner Seele zu kennen. Aber wenn Sie
erlebt hätten, wie innig er und seine Frau miteinander umgingen, würden Sie
meine Fassungslosigkeit verstehen. Außerdem hat er stets betont, wie hoch er
eheliche Treue schätzt, und im Gegensatz zu anderen Männern bezog er das nicht
nur auf seine Frau. Es ist keine vier Wochen her, als er mir erzählte, daß er
diesbezüglich einen heftigen Disput mit Gräfin von Tennitz hatte.«
»Inwiefern?«
fragte Richard überrascht.
»Ich
glaube, es war der erste Sonntag im Februar. Hermann kam nachmittags zu mir
nach Hause und bat mich, Unterlagen für ihn aufzubewahren. Er machte einen
niedergeschlagenen Eindruck, und als ich ihn nach dem Grund fragte, sagte er,
daß er am vergangenen Abend mit seiner Frau zu einem Hauskonzert bei Gräfin
von Tennitz eingeladen war und daß es dort zu einem unschönen Vorfall gekommen
sei. Während des Musikvortrages habe Frau von Tennitz ihn unter einem Vorwand
in ihre Bibliothek gebeten und ihm zu verstehen gegeben, daß sie einer Affäre
nicht abgeneigt sei. Hermann sagte, er habe sich unmißverständlich dagegen verwahrt
und nur aus Rücksicht auf seine Frau davon abgesehen, sofort zu gehen. Beim anschließenden
Souper habe Gräfin von Tennitz dann süffisante Bemerkungen über die Doppelmoral
untreuer Ehemänner gemacht, die ihre Gäste glauben lassen mußten, daß er versucht
hatte, sich ihr unsittlich zu nähern. Wie unangenehm die Situation für meinen
Bruder und seine Frau war, kann man sich unschwer vorstellen.«
»Hat
Ihr Bruder eine Vermutung geäußert, warum sie ihn kompromittiert haben könnte?«
fragte Richard, obwohl er die Antwort kannte. Er sah Cornelia vor sich, dezent
gekleidet, dezent geschminkt, und doch jede Faser ihres Körpers pure Sinnlichkeit.
Sie war eine Frau, die Männern mit einem Wimpernschlag den Kopf verdrehen
konnte, und sie genoß es. Und fühlte sich gekränkt, wenn man ihr das Spiel
verdarb.
»Ich
hatte keinen Anlaß, an Hermanns Worten zu zweifeln«, sagte Lichtenstein
reserviert.
Richard
beschloß, das Thema zu wechseln. »Was waren das für Unterlagen, die Ihr Bruder
Ihnen gegeben hat?«
»Hermann
fiel es schwer, die Bitten anderer abzuschlagen. Des öfteren hat er Bekannten,
die in finanzieller Bedrängnis waren, Geld geliehen. Immerhin war er klug
genug, Verträge aufzusetzen, in denen die Rückzahlungsmodalitäten geregelt
waren. Da er diese Papiere weder im Geschäft noch zu Hause aufbewahren wollte,
hinterlegte er sie bei mir.«
»Um
welche Summen ging es dabei?«
»Von
fünfzig Mark bis zwölftausend Mark war alles vertreten.«
»Gab es
Probleme mit einem der Schuldner?«
»Mir
ist nichts bekannt.« Lichtenstein reichte Richard eine lederne Mappe. »Dieser
Vertrag ist noch offen. Die Schuldsumme beläuft sich auf zehntausend Mark. Die
Rückzahlung sollte in Raten jeweils zur Monatsmitte erfolgen, aber bereits die
erste Zahlung geriet in Verzug. Ich habe die Sache Herrn Beck vorgetragen, und
er meinte, ich möge mich an Sie wenden.«
Richard
schlug die Mappe auf. Der Schuldner war David! Der Schmerz fuhr vom Kopf in
seinen Arm, daß ihm übel wurde. »Hat Ihr Bruder erwähnt, wofür Herr Könitz das
Geld benötigte?« fragte er, um Fassung bemüht.
»Er
sagte, es sei eine dringende und delikate Angelegenheit, über die er nicht
sprechen wolle. Glauben Sie, daß das im Zusammenhang mit dem Mord stehen
könnte?«
Richard
war lange genug Kriminalbeamter, um zu wissen, daß Menschen für weitaus weniger
als zehntausend Mark umgebracht wurden. »Sie können sich darauf verlassen, ich
werde es herausfinden.«
Laura
schlug Anna Fricks Akte zu. Ein uneheliches Kind, und der Vater ein Mann aus
gehobenem Hause: Das erklärte natürlich alles. Wie ignorant sie gewesen war!
Sie sah Kommissar Becks starres Gesicht vor sich, als er ihr die Akte gegeben
hatte. Ob er sich für sein Benehmen genauso schämte wie sie? Das setzte
allerdings voraus, daß er überhaupt zu irgendwelchen Gefühlen fähig war. Sie
zog ihren Mantel an und löschte das Licht. Warum machte sie sich eigentlich
Gedanken über diesen unsympathischen Menschen?
Im Flur
brannte die Nachtbeleuchtung, in Biddlings Büro hörte sie jemanden sprechen.
Sie widerstand der Versuchung, zu klopfen. Erstens war sie heute neugierig
genug gewesen, und zweitens würde man sie vielleicht noch zu Anna Frick vorlassen,
wenn sie sich beeilte.
Zwei
Stunden später kam sie im Rapunzelgäßchen an,
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