Hahnemanns Frau
Boden fallen ließ. Dunkelblond, mittelgroß, nicht zu schwer, nicht zu leicht, nicht schön, aber auch nicht häßlich – unauffällig, alltäglich, mittelmäßig. Doch schon bald fand sie heraus, daß sein Aussehen und seine Persönlichkeit im Gegensatz zueinander standen. Er war nicht nur äußerst klug, sondern hatte auch etwas von einem Chamäleon. Diese Tiere konnten die Farbe wechseln und sich so mühelos jeder Umgebung anpassen. Außerdem waren sie fähig, die Augen unabhängig voneinander zu bewegen, und konnten dadurch zwei Bildeindrücke gleichzeitig aufnehmen, und sie hatten eine lange, klebrige Zunge, die blitzartig hervorschoß, um ihre Beute zu fangen! Monsieur Chaix-D'Est-Ange tat es ihnen gleich. Manchmal vergaß man seine Anwesenheit beinahe, aber plötzlich stieß er mit einer unerwarteten Frage auf seinen Prozeßgegner zu und stiftete damit größte Verwirrung.
Der Richter forderte Mélanie auf, ihren Namen, ihr Geburtsdatum und ihre Adresse zu nennen, dann bedeutete er ihr, sich zu setzen, und bat den Generalstaatsanwalt, die Anklage zu verlesen. Man warf ihr vor, daß sie Visitenkarten führte, auf denen sie sich Docteur en Médicine nannte, obwohl sie kein Arztstudium vorweisen konnte. Das galt als Hochstapelei. Man warf ihr außerdem vor, daß sie als Frau praktizierte, daß sie ohne eine Anstandsperson Gespräche mit Patienten führte und daß sie die Pharmazie ausübte. Außerdem wurde ihr der Tod von Monsieur Jacques Barbéris zur Last gelegt, den sie angeblich mit Arsenicum vergiftet hatte.
Als Mélanie diesen Anklagepunkt hörte, wurde sie blaß und wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Man hatte diesen Anlagepunkt offensichtlich in allerletzter Minute hinzugefügt, denn sie hatte nichts davon gewußt, und auch Monsieur Chaix-D'Est-Ange, ihr Anwalt, sah sie verblüfft an.
Noch immer trug sie Trauerkleidung: einen schwarzen Rock, über den sie ein schwarzes Jäckchen mit Pelzbesatz gezogen hatte, auf dem Kopf eine schwarze Schute, aufgeputzt mit einem Schleier, der ihr Gesicht halb verdeckte.
Nun schlug sie ihn zurück und löste die Bänder des Hutes. Der Richter wollte mit seiner Befragung beginnen, doch Monsieur Chaix-D'Est-Ange bat um eine Unterbrechung, damit er sich mit seiner Klientin beraten konnte.
Man brachte Mélanie in ein kleines, dunkles Nebenzimmer, wo Monsieur Chaix-D'Est-Ange bereits auf sie wartete. Unterwegs dorthin hatte sie die Schute abgenommen und sich mit fahrigen Fingern die Haare geordnet. Als sie nun den Raum betrat, ließ ihr Chaix-D'Est-Ange nicht einmal die Zeit, sich zu setzen. »Wer war dieser Monsieur Barbéris?« wollte er wissen.
»Der Neffe des Kutschers meines Vaters. Die Sache ereignete sich vor einigen Jahren, als mein Mann noch lebte. Mit allerletzter Kraft suchte Jacques Barbéris seinen Onkel auf, weil er wußte, daß er sterben würde. Er bat den Onkel, sich um seine Frau und das kleine Kind zu kümmern. Zufällig war auch ich im Hause. Man rief mich zu Hilfe, aber ich konnte nichts mehr für Barbéris tun, als ihm das Sterben zu erleichtern. Ich gab ihm tatsächlich Arsenicum – in einer homöopathischen Aufbereitung, einer Fünfzigtausender-Verdünnung.«
Mélanie erklärte ihrem Anwalt, wie solche Arzneien hergestellt werden und daß jeder Gedanke daran, daß einige Globuli Arsenicum einen Menschen vergiften könnten, einfach absurd und lächerlich war. »Genausogut könnte man behaupten, ich hätte Monsieur Barbéris mit einer gekochten Nudel erstochen!«
Wieder im Gerichtssaal, wurde Mélanie in der Sache Barbéris befragt. Sie wies jede Schuld an seinem Tod zurück. »Es ist geradezu lächerlich – der Mann starb vermutlich an einem Magendurchbruch!«
»Nun gut, kommen wir zum nächsten Punkt.« Der Richter schob die Papiere, die vor ihm lagen, zur Seite und sah die Angeklagte an. »Es wird Ihnen vorgeworfen, daß Sie sich Docteur en Médicine Homéopathique nennen und sowohl die Medizin als auch die Pharmazie illegal ausüben. Bitte, äußern Sie sich dazu.«
»Diesen Titel bin ich berechtigt zu führen …«
Einer der im Publikum anwesenden Ärzte lachte hart auf, Mélanie ließ sich jedoch nicht beirren.
»… denn ich besitze ein Diplom der Allentown Academy of Homoeopathic in Pennsylvania.«
»Dieses Diplom ist in Frankreich soviel wert wie ein nasser Sack zum Feuer machen!« schrie ein anderer Arzt aus den Reihen der Zuschauer.
»Messieurs, ich bitte Sie – stören Sie die Verhandlung nicht, oder Sie
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