Hahnemanns Frau
verloren?«
»Ich fürchte, ja.« Sébastien seufzte und drückte ihre Hand.
»Was für eine Katastrophe!« Mélanies Tränen bahnten sich einen Weg über ihr blasses Gesicht und zerplatzten auf dem anthrazitfarbenen Stoff ihres Kleides. »Jetzt auch noch das! Als ob ich nicht schon genug ertragen müßte.« Mit zitternder Hand gab sie Sébastien den Artikel einer Zeitung. »Das wurde am Donnerstag über mich geschrieben. Es wird vermutlich eine Anklage gegen mich geben.«
Sébastien las den Artikel. Es handelte sich um böse Beschimpfungen und Verleumdungen. Einige Ärzte hatten sich zusammengetan und gegen Mélanies ›Machenschaften‹ protestiert. Sie nannten sie eine gewissenlose Gesetzesbrecherin, die mit dem Leben ihrer Patienten spielte, und verlangten, daß man sie endlich zur Rechenschaft zog.
»Nun weiß ich noch nicht einmal, wie ich einen Anwalt bezahlen soll.«
Sébastien gab ihr den Artikel zurück. »Wenn es wirklich zu einer Anklage kommen sollte und du einen Anwalt benötigst, dann werde ich dir einen besorgen. Mach dir darum keine Sorgen.«
»Mon Dieu …« Mélanie verbarg das Gesicht in ihren Händen. »Was hab ich nur getan, daß das Schicksal mich so schwer bestraft?«
Der Prozeß
Es roch muffig, denn es hatte geschneit, und die feuchten Wollmäntel und Überzieher der Leute, die sich neugierig auf den Zuschauerbänken des Gerichtssaals drängten, verströmten einen widerwärtigen Geruch nach Talg, Schweiß und dem Schmutz, der an ihnen haftete.
Als Mélanie hereingebracht wurde, sprang ein Mann aus den hinteren Reihen auf und schwang seinen Hut. »Da ist sie – Madame Hahnemann, Gott beschütze sie!«
Mélanie erkannte ihn. Es war Claude Danger, ein Bäckergeselle, dessen Töchterchen sie einmal behandelt hatte.
Der Gerichtsdiener führte sie zur Anklagebank. Auf dem Weg dorthin sah sie sich unter den Zuschauern um, suchte nach Charles und Sébastien. Doch als ihr Blick auf Pierre Doyen fiel, der sich mit einem arroganten, siegessicheren Lächeln vor ihr verbeugte, richtete sie den Blick schnell wieder nach vorne.
Eine Tür, die unsichtbar in die Wandvertäfelung hinter der Richterbank eingelassen war, wurde geöffnet, und Richter Roland Borel, ein älterer korpulenter Mann, dem an der linken Hand der kleine Finger fehlte, betrat mit seinem Gefolge den Saal.
Der Gerichtsdiener forderte die Anwesenden auf, sich zu erheben, und Richter Borel eröffnete den Prozeß.
»Heute, am 20. Februar, im Jahre 1847, wird vor der 8. Kammer des Tribunal de Police Correctionnelle de la Seine der Prozeß gegen Madame Mélanie Hahnemann, geborene Marquise d'Hervilly, eröffnet. Anklage wurde von Monsieur Orfila, dem Dekan der Medizinischen Fakultät der Universität von Paris, erhoben. Generalstaatsanwalt ist Monsieur Sellard.« Er sah kurz auf und Mélanie an. »Als Anwalt für Madame Hahnemann ist Monsieur Chaix-D'Est-Ange erschienen.«
Mélanie sah die Männer einen nach dem anderen an. Orfila saß neben Sellard. Er war groß, schlank, hatte dunkelblondes Haar, einen gezwirbelten Schnauzbart und am Kinn einen kleinen Spitzbart. Er war ein mißmutiger, verbitterter Mensch, der es liebte, seine Macht auszuspielen. Jahre zuvor hatte er versucht zu verhindern, daß Samuel die Erlaubnis zum Praktizieren erhielt. Nachdem es ihm nicht gelungen war, hatte er ihn wiederholt öffentlich angegriffen. Auch andere Männer, die seiner Meinung nach mit unorthodoxen medizinischen Verfahren arbeiteten, hatte er verfolgt und einigen von ihnen den Prozeß gemacht. François Vincent Raspail, der eine Medizin der Selbsthilfe mit Hausmitteln für die Armen propagierte und ein Handbuch darüber veröffentlicht hatte, war nur einer von ihnen. Trotz seiner Beliebtheit und Bekanntheit in Paris war Raspail auf Orfilas Wirken hin verurteilt worden. Nun machte er also ihr den Prozeß.
Sellard, der Generalstaatsanwalt, war etwas jünger als Orfila. Er hatte einen runden, fast schon feisten Kopf, eine korpulente Statur, rechts gescheiteltes dunkles Haar und eine große Nase, die das Gesicht beherrschte. Alles, was Mélanie über ihn wußte, war, daß er Feministinnen verabscheute.
Monsieur Chaix-D'Est-Ange, ihr Verteidiger, war der jüngste der Männer, in deren Händen nun ihr Schicksal lag. Sébastien hatte ihn empfohlen und einen Termin in seiner Kanzlei für sie gemacht. Als sie ihn dann zum ersten Mal sah, war sie enttäuscht. Er wirkte unscheinbar, ein Mann, der in der Menge verschwand wie ein Sandkorn, das man zu
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