Hahnemanns Frau
und einer Karaffe. Während sie es auf einem kleinen Beistelltisch absetzte, betrachtete sie Mélanies Kleid, das farblich so gut zum Holunderwein paßte, als wäre beides aufeinander abgestimmt worden. Ein Anflug von Neid war in ihren Augen zu erkennen. Seit vier Jahren hatte sie dieses Haus nur noch selten verlassen, zumeist, um Besorgungen für den Haushalt oder für ihren Vater zu machen, um auf den Friedhof zu gehen oder eine ihrer Schwestern zu besuchen. Aber keine Einladung mehr ins Schloß, kein Konzert mehr, auch kein Besuch bei der Schneiderin. Wozu auch? Zu welcher Gelegenheit hätte sie ein neues, modisches Kleid wie das der Marquise tragen sollen?
Samuel reichte Mélanie ein Glas und prostete ihr zu. »Auf Sie, mein liebes Kind, und auf einen schönen Abend.« Seine Augen leuchteten, als er seine junge Patientin über die Gebühr lange ansah und ihr dabei ein Lächeln schenkte, das seine beiden Töchter als unschicklich bezeichnet hätten, wäre er nicht ihr Vater und ein alter Mann gewesen.
Charlotte ging in die Küche. Luise setzte sich in den Sessel, in dem früher immer ihre Mutter gesessen hatte, und bat ihren Gast, von Paris zu erzählen. »Wie ich hörte, sind Sie Dichterin und Malerin und …«, sie zögerte, »und Sie leben allein? Gibt es viele Frauen in Paris, die allein leben und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen?«
»Nein, es sind einige, aber nicht viele. Und es ist auch in Paris unüblich, daß eine Frau einen eigenen Haushalt führt. Sofern sie nicht verheiratet ist, wohnt sie bei einem Mitglied der Familie. Ich habe mich zu einem Leben in Eigenverantwortlichkeit entschlossen, weil ich nicht bereit war, mich in das Gefängnis einer Ehe zu begeben. Ich konnte das tun, weil ich einen Vater habe, der liberal denkt. Niemals würde er mich zu einem Leben zwingen, das ich nicht führen möchte.«
»Und Sie stellen Ihre Gemälde tatsächlich aus?«
»Ich …« Mélanie brach ab, denn Charlotte kam mit einer Terrine herein und bat zum Essen.
Bevor Mélanie sich setzte, lobte sie die liebevoll gedeckte Tafel. Die Mitte zierte ein Blumenarrangement aus blauen Hortensien und langen Efeuranken, dazwischen Schleifen und Kerzen in kleinen Silberleuchtern.
Zum ersten Mal war ein Lächeln auf Charlottes Gesicht zu sehen. »Vielen Dank, Marquise – als Vorspeise gibt es heiße Bouillon mit Pastetchen. Ich hoffe, das mögen Sie.« Sie schöpfte etwas von der Suppe in die Tassen.
»Ich bin ganz sicher!« Mélanie seufzte. »Wenn Sie wüßten, was ich während der Reise alles vorgesetzt bekam! Die deutschen Poststationen haben einen schlechten Ruf, nicht nur, was ihre Küche betrifft. Aber daß Essen so abscheulich schmecken kann, hätte ich vorher nicht einmal zu denken gewagt.« Sie kostete und nickte anerkennend. »Mein Kompliment, Mademoiselle Hahnemann!«
»Aber sind Sie denn nicht per Extrapost gereist? Soviel ich weiß, läßt sich da auch ein gutes Essen vorbestellen.«
»Ach, die Extrapost! Zuerst konnte ich keine bekommen, später, als wir nach Hessen und in die Gegend des Thüringer Waldes kamen, hat man mir dringend davon abgeraten. Allein, nur in Begleitung eines Kutschers, das sei äußerst gefährlich, denn in den letzten Jahren sei die Räuberei wieder aufgeblüht. Tatsächlich sind wir einmal fast überfallen worden. Nur weil zufällig einige Reiter dazukamen, die bewaffnet waren, konnte der Überfall vereitelt werden.«
»Das klingt ja entsetzlich!«
»Es war auch entsetzlich.« Daß sie in Erfurt von einem ehemaligen Mitreisenden tatsächlich überfallen wurde, verschwieg Mélanie. Sie hätte Hahnemanns Töchter mit dieser unglückseligen Geschichte nur schockiert.
»Sie wollten noch von Ihren Ausstellungen erzählen«, erinnerte Luise.
Mélanie sah sie eine Weile nachdenklich an. Dann fragte sie: »Kennen Sie den Schelmenroman Guzman von Alfarache ?«
Luise nickte. »Von Mateo Alemán, einem Spanier. Er ist aus dem 16. Jahrhundert. Wir lesen viel. Musik und Literatur kommen in diesem Hause gleich nach der Homöopathie.«
Mélanie nickte und lächelte zu Samuel hinüber. »Ich habe sieben Bilder zu Motiven aus diesem Roman gemalt und damit einigen Erfolg gehabt. 1822 und 1824 hingen einige meiner Bilder im Louvre, und 1824 gewann ich zu meiner großen Freude sogar eine Goldmedaille. Ich stellte auch im Salon aus und bekam dort Medaillen, die mir König Charles persönlich überreichte.«
Luise und Charlotte sahen sie mit großen Augen an. Dank ihres Vaters hatten
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