Hahnemanns Frau
nach Robespierres Sturz nur knapp der Guillotine entkommen und hatte in späteren Jahren lange Zeit im Ausland gelebt. Außerdem war er auch Verfasser einiger scharfzüngiger, politisch radikaler Theaterstücke. Sie können sich vorstellen, Monsieur, daß mich seine Persönlichkeit fesselte. Er erinnerte mich in vieler Hinsicht an meinen Vater. Er hatte klare Grundsätze, war liberal gesinnt, literarisch interessiert und gebildet. Doch im Gegensatz zu Papa konnte er sich durchsetzen, war nicht schwach, sondern auf eine gute, mir imponierende Art streng und bereit, der Welt die Stirn zu bieten. Ich habe ihn sehr verehrt … aber ich habe ihn nicht geliebt und war auch nicht in gewisser Weise mit ihm verbunden, wie manche böse Zungen behaupteten.«
»Aber wie kommt es, daß Sie seinen Namen tragen?« Doktor Hahnemann legte seine Schreibfeder weg, lehnte sich in seinem Sessel zurück und griff sich eine seiner geliebten Pfeifen. Während er Mélanies Ausführungen lauschte, stopfte er sie und zündete sie an.
»Er hat ihn mir vermacht. In seinem Testament verfügte er, daß ich mich um seine Bestattung kümmern sollte. Er vermachte mir Geld … ja, und eben seinen Namen. Er schrieb, er wäre stolz darauf gewesen, wenn er mich hätte adoptieren können, aber da er das Glück hatte, Vater zu sein, war es nicht zulässig. Er hätte mir seine Hand angetragen, wenn meine Neigung zur Kunst, der einzigen Leidenschaft, die ich so glücklich beherrschte, es mir gestattet hätte, sie anzunehmen. So blieb ihm nur ein Weg: Er hinterließ mir als Zeichen seiner besonderen Hochachtung seinen Namen.«
Mélanie lächelte in Erinnerung an ihren guten alten Freund. »Selbstverständlich achtete ich seinen Letzten Willen. Ich nahm seinen Namen an und war stolz, ihn tragen zu dürfen. Das finanzielle Erbe schlug ich allerdings zugunsten seiner Verwandtschaft aus.«
Wieder senkte sie den Blick, um ihre Tränen zu verstecken. »Ich beerdigte ihn in meiner Gruft und litt unsagbar unter seinem Verlust. Aber das schlimmste war: Schon bald folgten ihm mein Ziehvater Lethière, den ich ebenfalls in meiner Gruft bestattete, und schließlich auch François Andrieux. Innerhalb von vier Jahren verlor ich meine drei Mentoren und besten Freunde. Daß sie alt waren, konnte mich dabei nicht trösten. Ich war voller Trauer und Schwermut und wurde krank. Damals begannen die Schmerzen, derentwegen ich nun hier sitze, Monsieur.«
Die Glocke der Agnus-Kirche schlug bereits elf Uhr, als Mélanie mit ihrem Bericht endete. Geheimrat Dr. Hahnemann lehnte sich zurück und sagte: »Nun, beginnen wir mit Sulfur. An den Symptomen, die sich dann zeigen, werden wir sehen, ob sich meine Vermutung bestätigt und ich Ihnen Natrium verabreichen muß.«
»Und wie lautet Ihre Diagnose?« fragte Mélanie.
»Ach, wissen Sie, liebes Kind, Diagnosen sind mir längst nicht mehr wichtig. Abgesehen davon, daß sie höchst unzuverlässig sind, verleiten sie uns dazu, die Krankheit auszumalen und daran festzuhalten. Viel wichtiger ist die Summe der Symptome, die sich aufgrund ihres gesamtes Befindens einstellen. Danach richtet sich die Medikamentengabe, und wir können, so hoffe ich wenigstens, die Heilung in Gang setzen.«
Er stand auf, ging zu seinem Medizinschrank, nahm ein frisches Glas und schenkte ein paar Fingerbreit Wasser aus einer bereitstehenden Karaffe ein. Dann wählte er aus einer Unzahl kleiner brauner Fläschchen eines aus, schlug es mehrmals hart gegen den Handballen und ließ schließlich drei der Globuli aus dem Fläschchen in das Wasser gleiten.
Plötzlich drehte er sich zu Mélanie um. »Sie würden mir eine große Freude machen, wenn Sie heute abend unser Gast sein wollten. Sagen wir, so gegen sieben zu einem warmen Nachtmahl? Ich bin sicher, auch meine beiden Töchter würden sich über ein bißchen Abwechslung freuen.«
Ein Strahlen erhellte Mélanies Gesicht. »Ja, sehr gerne!« sagte sie.
Samuel Hahnemann reichte seiner Patientin das Glas. »Bitte nehmen Sie einen kleinen Schluck davon und behalten Sie ihn eine Weile im Mund.«
Sie folgte seinen Anweisungen, dann gab sie ihm das Glas zurück, und er schlug vor: »Am besten hole ich Sie ab. Ein kleiner Spaziergang wird mir guttun! Ich erwarte Sie um sieben vor dem Gasthaus.«
»Ich werde pünktlich sein.« Lächelnd reichte sie ihm die Hand. Sie sahen sich in die Augen, lange und tief. Dabei machte Mélanies Herz einen Satz und stand ein paar Atemzüge lang still. Welche Kraft dieser Mann
Weitere Kostenlose Bücher