Hahnemanns Frau
abgekocht hat, ist er ungefährlich und kann sogar bei Erkältungen helfen.«
»Richtig. Ein paar wenige Beeren des ungekochten Holunders schaden zwar nicht und sind sogar eine wirksame Arznei bei Verstopfung, aber schon eine Handvoll davon würde unter Umständen zum Tode führen. Man bekäme heftigste Bauchkrämpfe und allerhand andere Vergiftungserscheinungen und würde schließlich am Durchfall sterben. Holunder ist also in hohem Grade ungenießbar, kann aber trotzdem heilen oder als Kochsaft, Likör oder Marmelade ganz vortrefflich schmecken. So verhält es sich auch mit vielen anderen Stoffen aus der Natur. Nimmt man sie in ihrem natürlichen Zustand ein, schaden sie, obwohl ein großes Heilpotential in ihnen steckt. Verändert man sie aber in ihrer Struktur, geht die Giftigkeit verloren, und das Heilpotential kann sich entfalten.«
Magdalena nickte. »Das habe ich verstanden.«
»Gut, das ist das erste, was es zu begreifen gilt. Das nächste ist, daß meine Lehre besagt, daß Ähnliches mit Ähnlichem geheilt werden kann. Hat ein Patient Durchfall, braucht er also ein Medikament, das bei einem Gesunden Durchfall erzeugen würde – aber nicht einfach irgendwie Durchfall, sondern die Symptome müssen möglichst genau denen entsprechen, die sich bei dem Kranken zeigen.«
»Ja, aber das wäre doch, als …« Magdalena suchte nach Worten. »Als würde ich in eine Wunde auch noch ein Messer stoßen!«
Hahnemann nickte. »Du hast recht. Aus diesem Grunde muß das Medikament in einer ganz bestimmten Weise aufbereitet werden. Dadurch bekommen wir den Effekt, den ich bereits erwähnte: Die heilende Wirkung bleibt bestehen und verstärkt sich sogar, das Gift wird jedoch entzogen. Ich erreiche das, in dem ich den Urstoff meiner Arznei verreibe, ihn dann auflöse, die so entstandene Tinktur immer weiter verdünne und dabei gleichzeitig verschüttele. Eine alleinige Verdünnung würde nichts nützen, das Medikament wäre kraft- und wirkungslos.«
Magdalena nickte. Das sah sie ein. »So wie man ja auch keine weiße Wandfarbe bekommt, wenn man auf gelöschten Kalk einfach nur Wasser schüttet. Will man damit die Wände streichen, mußt man immer wieder kräftig umrühren, sonst ist oben nur das Wasser und unten nur der Kalk.«
Samuel Hahnemann lächelte. Das traf die Sache zwar nicht ganz, aber immerhin gab sich Magdalena Mühe zu verstehen. Er überlegte, ob er ihr noch erklären sollte, daß diese Verdünnungen so oft wiederholt wurden, bis am Ende kein einziges Teilchen des Urstoffes mehr vorhanden war, und daß sich diese Arzneien, je öfter sie verdünnt und dabei verschüttelt wurden, desto wirkungsvoller zeigten. Aber er wollte Magdalena nicht zu sehr verwirren und ließ es darum bleiben.
»Ich sehe, du bist eine gelehrige Schülerin«, sagte er statt dessen, »und ich würde mir wünschen, daß manche meiner Kollegen dein Verständnis aufbringen könnten.«
»Und diese Arzneien haben Sie in solchen kleinen braunen Fläschchen?« wollte Magdalena noch wissen.
»Richtig. Ich beträufle Zuckerkügelchen damit. Möchte ich das Medikament verabreichen, löse ich einige der Kügelchen in Wasser auf und gebe dem Patienten diese Medizin.«
»Aber wie wissen Sie denn, welche Krankheit eine Droge hervorrufen kann?«
Hahnemann nickte anerkennend. »Bravo. Deine Frage zeigt mir, daß du verstanden hast. Um das herauszufinden, muß ich die Wirkung verschiedenster Stoffe zuerst einmal geprüft haben. Ich und einige andere Leute, die mich bei meiner Arbeit unterstützen und nach meiner Methode behandeln, haben deshalb am eigenen, gesunden Leib Versuche vorgenommen. Das heißt, wir nahmen eine kleine Dosis der zu prüfenden Droge ein und warteten ab, was mit uns geschah. Unsere Beobachtungen schrieben wir auf. Jede kleinste Regung unseres Körpers und unseres Gemütes haben wir registriert. Später faßten wir dann unsere Untersuchungsergebnisse zusammen und besprachen sie. Wenn wir nun einen Patienten befragen, dann achten wir ebenfalls auf jede kleinste Regung, die er uns beschreibt. Wie ein Schmerz sich anfühlt und wo er sitzt, ob derjenige schwitzt oder nicht, und wenn er schwitzt, wann das der Fall ist und in welcher Art. Ob er schnell friert, kalte Hände hat oder ein Völlegefühl im Magen verspürt. Aber auch ob er oft traurig ist, was er träumt, wovor er Angst hat oder was ihn glücklich macht interessiert uns. Finden wir dann anhand all dieser Symptome im Vergleich mit unseren eigenen Erfahrungen das
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