Hahnemanns Frau
Sie, mäßigen Sie sich!« Dr. Henry Detwiller, der am Fenster stand, ging einige Schritt auf Petroz zu. »Niemand stirbt in Dr. Hahnemanns Praxis. Selbstverständlich hat er recht. Wenn der Gesundheitszustand Ihres Patienten sich in der von Ihnen beschriebenen Art verschlechterte, dann nur, weil Sie die falsche Arznei gewählt hatten.«
Samuel tippte mit dem Zeigefinger auf ein ledergebundenes Buch, das auf seinem Schoß lag. »Ich sagte Ihnen bereits zu Beginn dieser Debatte, daß Ihr Patient nicht Belladonna braucht, sondern, wie ich nach Durchsicht Ihrer Anamneseaufzeichnungen vermute, Sulfur. Der Versuch, eine Krankheit beim Namen zu nennen und sie dann mit einer bestimmten homöopathischen Arznei zu bekämpfen, ist zum Scheitern verurteilt. Lernen Sie, eine ordnungsgemäße Anamnese durchzuführen und nach meiner Lehre zu behandeln, oder nennen Sie sich nicht länger Homöopath!«
In diesem Moment klopfte es. Rose, die Haushälterin, trat ein und gab Mélanie Zeichen, daß sie gebraucht wurde.
Mélanie ging nur ungern. Sie wußte, daß Samuel in diesem Zustand sehr beleidigend werden konnte. Er hatte recht, nur fehlte ihm die nötige Gelassenheit. Vom Zorn geleitet, ließ er sich in solchen Situationen nicht selten zu Äußerungen hinreißen, die ihm später große Schwierigkeiten einbringen konnten.
»Was ist, Rose?« fragte sie, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
»Ein Junge verlangt nach Ihnen, Madame Hahnemann. Es geht um ein krankes Kind.«
Der Junge war etwa vierzehn Jahre alt. Er hatte dunkles Haar, und sein Gesicht war so schmutzig, daß das Weiß seiner Augen unnatürlich hell leuchtete.
»Eine Dienstmagd schickt mich, Madame. Ich soll Ihnen sagen, daß ihr Kind erstickt. Sie hat gehört, daß Sie den Kutscher Jaques Cassis behandelt haben, und sie fleht Sie an, auch ihrem Kind zu helfen. Es ist schon ganz blau und röchelt, Madame! Bitte, kommen Sie schnell!«
»Und wie heißt die Frau? Und wo wohnt sie?«
»Sie heißt Dodo, Madame, mehr weiß ich nicht. Ich kam nur zufällig an dem Haus vorbei, als sie plötzlich aus der Tür auf die Straße gelaufen kam und mich schreiend und unter Tränen bat, Sie zu holen. Ich bringe Sie zu dem Haus. Zu Fuß sind es zwanzig Minuten.«
Mélanie dachte nach. »Warte hier!« Sie ging zurück in den Salon und bat Dr. Chatron, seine Kutsche nehmen zu dürfen.
»Es geht um ein Kind. Bis mein Kutscher angespannt hätte, würde wertvolle Zeit verstrichen sein.«
»Natürlich, Madame, nehmen Sie meine Kutsche. Ich warte hier, bis Sie zurück sind, und werde versuchen, Ihren Mann etwas zu beruhigen.«
Mélanie lächelte ihn dankbar an, dann ließ sie sich von Rose ihr Cape und die Tasche mit den Arzneien bringen und folgte dem Jungen, der sich zum Kutscher auf den Kutschbock setzte und ihm den Weg wies. Als sie vor dem Haus ankamen, zu dem der Junge sie wies, stand dort eine junge Frau auf der Straße, um auf sie zu warten. Sie war ausgesprochen hübsch. Unter ihrer weißen Haube waren rote Locken zu sehen, und ihre Augen hatten die Form von Mandeln.
»Wie gut, daß Sie kommen, Madame! Bitte folgen Sie mir.« Die junge Frau huschte ins Haus.
Mélanie fiel auf, daß sie überhaupt nicht besorgt wirkte, sondern eher wie eine Katze, die sich zum Sprung duckte. Dann jedoch dachte sie: Vielleicht geht es ja gar nicht um ihr Kind, vielleicht ist sie der Mutter nur behilflich, und sie eilte hinter ihr her, ohne weitere Fragen zu stellen.
Die Frau lief so schnell durch den kleinen Innenhof und die Treppe hinauf, daß Mélanie ganz außer Atem geriet. »Kommen Sie, Madame, schnell!« Sie führte sie einen Flur entlang. An vier Türen lief sie vorbei, vor einer fünften blieb sie stehen und wartete, bis Mélanie neben ihr war. Dann riß sie die Tür plötzlich auf, stieß Mélanie in das Zimmer und fing im selben Moment an zu zetern:
»Entschuldigen Sie, Monsieur, aber sie ließ sich einfach nicht zurückhalten!«
Es vergingen einige Schreckenssekunden, in denen Mélanie versuchte zu begreifen, in welcher Lage sie sich befand. Sie war in einem Schlafzimmer. Vor ihr ein großes Bett mit einem Baldachin, die Vorhänge waren jedoch nicht zugezogen. Im Bett lag Sébastien Colbert und neben ihm eine Frau; die beiden waren nackt, und es war offensichtlich, welchem Vergnügen sie soeben nachgingen.
Mélanie war der Dame einige Male in der Oper begegnet. Sie hieß Marie David, eine junge Witwe mit einem ziemlich losen Mundwerk. Seit ihr Mann, Auguste David,
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