Hahnemanns Frau
haben viel Zeit miteinander verbracht. Teils in meinem Atelier, teils in Ihrer Praxis, denn ich bin Ihr Patient, und Sie haben für mich Modell gesessen. So haben wir uns gegenseitig Einblick in unser Wesen gewährt und uns ein Stück weit ergründet. Sie mich auf dem Papier über eine Anamnese, ich Sie mit dem Meißel auf Stein. Aber ob so oder so, ob im Gespräch oder im Hall meiner Hammerschläge – wir lernten uns dabei kennen, und so glaube ich inzwischen eine ganze Menge über Sie zu wissen.«
David sah Samuel einige Sekunden nachdenklich an, bevor er seine Erkenntnisse in Worte faßte: »Es gibt gewisse Situationen, in denen Sie sehr ungeduldig werden können – und doch sind Sie der geduldigste Mensch, wenn es darum geht, einem Kranken Achtung, Aufmerksamkeit, ja sogar Liebe entgegenzubringen. Ich habe Sie als Ankläger erfahren, als Mann, der gnadenlos und rechthaberisch erscheint, wenn man ihm mit Ignoranz und Dummheit begegnet – und doch sind Sie der gütigste und liebevollste Mensch, wenn Sie an Ihrem Gegenüber Herzensbildung und Zivilcourage erkennen. Sie sind, verzeihen Sie, uralt und gleichzeitig so jung und dem Leben zugewandt wie kaum ein Zwanzigjähriger. Sie sind ein Freidenker, und doch haben Sie eine Heilmethode entwickelt, die sich strengsten Grundsätzen unterordnen muß, will sie funktionieren. Kurz – Sie scheinen auf den ersten Blick so widersprüchlich zu sein wie Gott und der Teufel. Aber auch Gott und der Teufel sind ja zwei Seiten derselben Medaille, und wir wissen, daß der eine ohne den anderen nicht existieren könnte.«
Samuel nickte. »Wie wahr! Aber mich mit dem Teufel zu vergleichen ist natürlich schon ein großes Wagnis – für den Teufel!«
Die Gäste lachten, Mélanie und Samuel tauschten verliebte Blicke.
»Teufel hin, Hahnemann her – auf jeden Fall haben Sie es geschafft, all die scheinbaren Widersprüche in sich zu vereinen und zu einer Art von Vollkommenheit werden zu lassen, die man nicht oft bei einem Menschen findet. Ich sage das nicht, um Ihnen zu schmeicheln, lieber Freund. Ich sage es, weil es das ist, was mir dieser Stein …«, er legte seine Hand auf das roten Seidentuch, unter dem die Büste verborgen war, »von Ihnen erzählt hat. Ich habe ihn über eine lange, lange Zeit hin bearbeitet, um ein Bildnis von Ihnen zu schaffen. Ein Bildnis, das Ihnen hoffentlich gerecht werden kann und dem aufmerksamen Betrachter, also dem, der nicht nur mit den Augen, sondern auch mit dem Herzen sieht, etwas von Ihrem vielschichtigen, tiefgründigen Wesen offenbart.«
Er beugte sich zu Sophie und flüsterte ihr etwas ins Ohr, worauf die Kleine nickte und an dem Seidentuch zog. Es rutschte von dem glatten Stein, Samuels Büste kam zum Vorschein, und alle klatschten Beifall.
Samuel war gerührt. Er hatte Tränen in den Augen, die er mit dem Handrücken abwischte, bevor er aufstand und zu David d'Angers kam, um ihn zu umarmen.
»Danke, lieber Freund! Bei all den Anfeindungen, denen ich ausgesetzt bin, tut es mir gut, solche Worte über mich zu hören.«
Er verschränkte die Hände auf dem Rücken und betrachtete die Büste. »Nun, die Nase ist ein wenig spitz geraten!« sagte er schließlich. »Aber das ist wohl nicht Ihr Fehler, sondern der meines Vaters, der sie mir in einer glückseligen Nacht mitsamt allem anderen, was an meinem Äußeren nicht so gut gelungen ist, mit auf den Weg gegeben hat.«
Die Gäste lachten, und Samuel wandte sich um. »Na, nun kommt schon her, das müßt ihr euch aus der Nähe ansehen!«
Während man sich um die Büste drängte, erklang Musik, und die Diener brachten Getränke. Es wurde angestoßen, gelacht, und man forderte Samuel auf, mit seiner Frau zu tanzen.
Er drehte sie im Walzertakt, die anderen klatschten dazu. Dann übergab er sie an Charles und setzte sich wieder in seinen Sessel, von wo aus er dem ausgelassenen Treiben seiner Gäste zusah.
Nach einer Weile kam Dr. Chatron zu ihm. Mit einem Nicken deutete er auf Sébastien. »Wie ich sehe, zählt Monsieur Colbert nun zu Ihren Freunden? Hat sich diese unglückselige Geschichte, damals, als Ihre Frau zu einem Kind gerufen wurde, das es dann gar nicht gab, denn aufgeklärt?«
»Ja, es hat sich aufgeklärt. Am Tag, als der Arc de Triomphe eingeweiht wurde, hat er mir das Leben gerettet und seines dafür riskiert. Da mußte ich ihm zuhören und einsehen, daß wir ihm Unrecht getan hatten. Sébastien Colbert war selbst hereingelegt worden. Wie sich herausstellte, war es
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