Haie an Bord
hat viele Gesichter …
Der einzige, der sich weder an Sperrstunden noch an Befehle Norman Whites hielt, war Lord McHolland.
Nachdem er als anerkannter Trottel, was ihn bis ins Mark beleidigt hatte, Brieftasche und Vermögen behalten konnte, zog er sich um, als habe man das Schiff gar nicht überfallen, bereitete sich wie jeden Abend für seinen Nachtspaziergang an Bord vor, schlüpfte in seinen Shetlandpullover, setzte die flache Golfmütze auf die weißen Haare und schlang einen Wollschal um seinen Hals. Nur eines war neu: Die geliebte Pfeife vertauschte er gegen einen alten, riesigen Trommelrevolver. Er stammte noch aus seiner Indienzeit, McHolland schleppte ihn überallhin mit, und er wußte gar nicht, ob dieses Monstrum von Waffe überhaupt noch schoß. Geladen war sie jedenfalls, aber der letzte Schuß war aus ihr 1929 gedonnert, irgendwo am Khaiberpaß, hinter einem Felsenklotz, und da hatte sie McHolland das Leben gerettet. Seitdem trug er sie immer mit sich herum, ein ziemlich schwerer, aber zu McHolland passender Talisman.
Die Decks waren einsam, die Kabinenfenster dunkel. Die Stille, die über dem Schiff lag, war gespenstisch. Und wie ein Gespenst tappte auch McHolland durch die Gänge, über die Treppen, durch die Salons und über die Decks, blieb vor dem Lazarett stehen und zögerte, denn hier allein brannte noch Licht, dann aber schüttelte er den Kopf und ging weiter.
Der junge Doktor hat besseres zu tun, als sich mit einem alten Mann zu unterhalten, dachte er. Trotzdem hätte man ihm sagen sollen, was ich denke, nein, was ich wieder spüre … diese unerklärliche Gefahr, die ich wittere wie ein Tier.
Bisher hatte er immer recht behalten. Sein Gefühl für Gefahr war ein Naturereignis.
Er blieb stehen, steckte die Hand in die Tasche und umklammerte den dicken Griff des alten Revolvers.
Das Bootsdeck. Steuerbord. Der bevorzugte Auslauf von Lord McHolland. Darin war er wie ein Hund … man hat so seine eigenen, bestimmten, liebgewonnenen Wege und Stellen, an denen die Welt irgendwie und seltsam in Ordnung ist. Ein winziges Plätzchen des inneren Friedens … ein Mensch, der das nicht hat, ist ein armer Mensch.
Heute signalisierte etwas in McHolland, daß sein Paradieswinkel aus der Ordnung geraten war. Er drückte sich an die Wand der Aufbauten, starrte angestrengt durch die Dunkelheit und musterte den Platz, an dem er am liebsten stand … der zwischen den Rettungsbooten 14 und 15. Hier lehnte auch sein Liegestuhl gegen den Davit, mit einer Kordel an der Eisenstrebe festgebunden. Der Decksteward hatte den aussichtslosen Kampf längst aufgegeben, auch McHollands Stuhl abends einzusammeln und zu stapeln.
Alles war still. Das Meer rumorte dunkel, träge schaukelte das Schiff, die Nacht war so schwarz, daß McHolland kaum die Umrisse der beiden nahe vor ihm in der Luft hängenden Boote sehen konnte.
Rüstige alte Leute haben die rätselhafte Eigenschaft, sich lautlos zu bewegen. Plötzlich stehen sie hinter einem, keiner hat sie kommen hören, aber sie haben meistens gehört, was nicht für sie bestimmt war. Daran sind schon ganze Familien und große Erbschaften zerbrochen.
McHolland schlich näher, und dann sah er die schmale Gestalt genau neben seinem festgebundenen Liegestuhl stehen, ein kleiner roter Punkt leuchtete auf und verglomm wieder.
Er raucht, dachte McHolland zufrieden. Und ich weiß auch, wer das da ist! Auch wenn ich eine Mumie sein soll … bis vier zählen kann ich noch. Norman White im Kommandoraum, Mario Filippo auf dem Sonnendeck, Tomaso Colezza backbord bei den Booten … hier steht also der lange gesuchte, der gefährlichste Mann an Bord, der Tod mit dem kleinen Funkkasten: Carlo Benzoni.
Plötzlich war McHolland kein Greis mehr. Die einmalige Chance, 400 Menschen und ein Schiff zu retten, kehrte nie wieder.
Er blieb stehen, atmete ein paarmal tief durch, holte seinen schweren Revolver aus der Tasche, packte ihn am Lauf und fühlte sich vierzig Jahre jünger.
Carlo Benzoni, etwas schläfrig, um den Hals das Funksignalgerät, sehnte den Morgen herbei und den nächsten Tag, der die Entscheidung bringen sollte, als er hinter sich ein Rascheln hörte. Bevor er sich herumwerfen konnte, krachte der Revolverkolben auf seinen Hinterkopf, die Nacht vor ihm schien sich aufzulösen, er hatte nicht einmal mehr die Möglichkeit, einen Laut auszustoßen, und sank in sich zusammen.
McHolland fing ihn auf, schleifte ihn von der Reling, zog das Funkgerät über Benzonis Kopf, hängte
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