Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
anderen teilen musste, die keine Ahnung davon hatten. Tatsächlich absolvieren Mediziner nur ein Seminar in Leichenschau, aber er fand sowieso, dass dies ein „Learning-by-doing“-Job war, von dem so gut wie niemand außer ihm eine Ahnung hatte. Schon als „Pathologe“ bezeichnet zu werden, ließ ihn extrem pampig werden – er war doch kein Gewebeproben-Popler! Und warum mussten die Ermittler dauernd bei ihm auftauchen, um bei der Autopsie zuzusehen und die Leiche nach „Plausibilität“ zu untersuchen? Reichte es nicht, wenn er ihnen seinen Bericht schickte? Was wollten die immer bei ihm? An seiner Einrichtung konnte es nicht liegen. Er hatte schon bei Dienstantritt damit begonnen, seine Abteilung möglichst abweisend, kalt und albtraumfördernd zu gestalten. Körperteile in Spiritus-Gläsern in den Regalen, darunter einen kompletten Satz männliche Genitalien, außerdem Fotos von Mord- und Unfallopfern, die von Häckselmaschinen und Güterzügen in originell arrangierte Körper-Sets zerlegt worden waren, gab es eifrig zu bestaunen. Die Lüftung hatte er auf das absolute Minimum heruntergefahren, die Beleuchtung bestand aus nackten Neonröhren, und wenn Lamprecht es wirklich darauf ankommen lassen wollte, spielte er auf einem tragbaren CD-Deck Richard Wagner ab. Das gab den meisten Kommissaren den Rest, und sie verpissten sich ganz schnell wieder.
„ Können Sie die Musik mal abstellen?“
„ Aber natürlich, Frau Becker. Mögen Sie keine klassische Musik?“
Lamprecht schaltete die Musik aus und ging zurück zu der Leiche, die nackt und an strategisch interessanten Stellen aufgeschnitten auf dem Untersuchungstisch rumlümmelte.
„ Doch, und wie. Ich geh sogar ins Konzerthaus. Aber ich mag nicht diesen arisch-antisemitischen Nibelungen-Höllengesang von behörnten Weibern mit Edelstahl-BH.“ Lisa hatte mal von Sven gehört, dass Wagner furioser Judenhasser gewesen war, was offensichtlich ein Grund war, Wagner schlecht finden zu müssen. Tatsächlich fand sie ihn großartig, der ununterbrochene Wohlklang der Wagner-Opern ging ihr jedes Mal durch und durch, es war wie Opium. Aber einen Antisemiten hatte man gefälligst zu ächten, so viel stand mal fest für Sven. Man konnte ja auch leben, ohne Wagner zu hören. Und wenn sich herausstellte, dass auch Mozart oder Joe Cocker Antisemiten waren? Völliger Blödsinn, so Sven, aber wenn doch, dann würde man die auch nicht mehr hören dürfen. Lisa fand diese Argumentation nicht wirklich schlüssig, aber es war unheimlich schwierig, mit Sven zu diskutieren, dafür war er einfach zu gefestigt in seinen Überzeugungen, ähnlich wie religiöse Fanatiker und, nun ja, Antisemiten.
„ Wo haben Sie denn den Kopf gelassen?“ fragte Fabian schwungvoll. Sein Spaß am allgemeinen Grauen um ihn herum ärgerte Lamprecht maßlos. Voller kindlicher Neugier nahm der junge Hauptkommissar ein Spiritusglas nach dem anderen aus den Regalen, schüttelte sie wie Schneekugeln und hielt sie sich ganz nah an die Augen. Gerade hatte er das abgetrennte Genitalium in der Hand gehabt und gesagt „Mein lieber Schwan, nicht übel, aber durch das Wasser wird er wohl etwas vergrößert.“ Keinen Funken Respekt vor den Toten. Ekelhaft. Aber na ja , so dachte sich Lamprecht vergnügt im Stillen, vielleicht liegt der ja mal hier auf meinem Tischchen, mal sehen, was er dann für Sprüche klopft.
„ Der Kopf ist in einer der Kühlschubladen. Wollen Sie ihn sehen?“
„ Nein danke, ich wollte nur sichergehen, dass er nicht in der Wohnung vergessen wurde.“
„ Man hat einen Kreidestrich drumherum gemacht.“
„ Hatten Sie so was schon mal?“ wollte Lisa wissen. „Ich meine, eine geköpfte Leiche?“
„ Nein“, gab Lamprecht widerstrebend zu, „deshalb habe ich mir auch professionelle Hilfe verschafft.“
„ Einen Experten für Enthauptungen?“
„ Sozusagen. Er müsste eigentlich schon hier sein. Er hat mir versprochen, extra seinen Laden über Mittag dichtzumachen.“
Wie aufs Stichwort klopfte jemand von außen an die Milchglastür, die ins Allerunheiligste führte.
„ Reinkommen!“ bellte Lamprecht.
Ein Mann Mitte vierzig betrat den Raum. Er wirkte überhaupt nicht wie ein Arzt, um es vorsichtig auszudrücken. Sein buschiger Schnauzer und seine stark gerötete Hautfarbe waren ja noch gar nichts, aber seine kräftigen Oberarme und der feiste Nacken ließen auf alles Mögliche schließen, aber nicht darauf, dass dieser Mann jemals auf die Fähigkeiten seines Intellekts
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