Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
zu viel Heißhunger, zu gut entwickelte Geschmacksnerven. Lisa konnte jede Fleischwurstmarke am Geschmack erkennen, schmeckte den Alkohol aus der Schwarzwälder Kirsch raus und hasste das meiste Gemüse. Ihre Mutter hatte das nie verstanden. „Verwöhnt“ sei sie, hatte diese immer getönt, wenn Lisa mal wieder etwas nicht gemocht hatte. Lisas Mutter verlangte von jedem das Fressverhalten einer Ziege: Grundsätzlich alles ist essbar. Und so kochte sie auch, unerschütterlich in dem Glauben beseelt, eine gute Köchin zu sein, einfach weil sie das schon ihr ganzes Leben lang machte. Freilich ohne jemals etwas dazuzulernen. Lisa war nicht verwöhnt, im Gegenteil, als sie von zu Hause ausgezogen war, hatte sie einen gewaltigen Nachholbedarf an gutem Essen, der bis heute anhielt.
Sie hatte mal versucht, mit dem Rauchen anzufangen, weil sie sich sagte: Wenn Raucher nach dem Aufhören dick werden, weil sie zu viel essen, könnte es andersrum auch funktionieren. Sie würde rauchen und müsste dann nicht mehr essen. Sicher, dafür gab es Lungenkrebs, Raucherhusten und diesen grässlichen Gestank, aber sie würde abnehmen. Nach nur zwei Zügen an einer Marlboro wurde der Plan begraben. Wie Menschen sich freiwillig so was reinziehen konnten, überstieg ihr Vorstellungsvermögen bei weitem.
Lisa zog sich aus und ging unter die Dusche. Sie seifte ihren Bauch ein und schätzte, dass sie wohl wieder ein Kilo zugenommen hatte. 96 Kilo, es war nicht zu fassen. Vielleicht sollte sie aufhören, sich zu wiegen. Sie wollte dabei nicht so manisch werden wie Bridget Jones. Die war allerdings schon furchtbar drauf, wenn sie 65 Kilo wog. Ha! Lisa würde morden für 65 Kilo! Na ja, vielleicht nicht gerade morden, also zumindest niemanden, der es nicht verdient hatte. Aber wer konnte das entscheiden? Dann würde sie eben nur jemanden schwer verwunden für 65 Kilo. Andererseits – was konnte irgendjemand anders für ihr Gewicht? Trotzdem. Wenn sie schon keinen Menschen umbringen oder verletzen würde, dann wenigstens ein Tier. Einen Hund. Einen hässlichen fiesen Köter. Den würde sie kaltmachen für 65 Kilo. Sogar schon für 70. Na gut, nicht kaltmachen, aber etwas verstümmeln, das ginge schon noch. Zumindest den Schweif konnte sie ihm abschneiden, oder ein Ohr. Jawohl, Lisa Becker würde einem hässlichen Hund das Ohr abschneiden, wenn sie dafür 65 Kilo wiegen könnte. Einem alten, tauben Hund, der das nicht mal merkt.
Ich habe irgendwie keinen Killerinstinkt , seufzte sie zu sich, als sie sich abtrocknete. Es klingelte an der Tür.
„ Sekunde!“ rief Lisa und stülpte sich den Bademantel über. Den hätte sie am liebsten immer getragen, es war das einzige Kleidungsstück, das an dicken Frauen besser aussah als an schlanken. Das fand denn auch der liebe Sven, der vor der Tür stand, und dem unwillkürlich die Augen aus den Kopf fielen beim Anblick der versammelten Lisaschen Üppigkeit. Er sammelte seine Augen auf, setzte sie wieder ein und fragte, wie ihr Tag war.
„ Wie immer“, murmelte Lisa und ließ ihn rein. „Und deiner?“
„ Na ja, ich recherchiere gerade für einen Artikel über die Armenspeisungen in Marzahn.“ Sven ging in die Küche und setzte Teewasser auf, als wäre dies seine Wohnung. Er mochte es, eine Art Beziehungsleben zu simulieren, das es gar nicht gab. Er sah Lisa zu, wie sie im Schlafzimmer verschwand, und verging fast vor Sehnsucht. Auch die traurige Situation in Berlins sozialen Brennpunkten musste dem Anblick von Lisas wackelnden Rundungen weichen. Sie machte die Tür in der Eile nicht ganz zu und Sven konnte noch erkennen, wie sie den Mantel zurückschlug und für einen Sekundenbruchteil ihr Busen zu erkennen war, bevor er sich diskret zurückzog. Er war ja schließlich nicht irgend so ein Schwein, nicht wahr? Die meisten anderen Männer hätten wahrscheinlich schon längst versucht, sich an ihr gütlich zu tun, aber er nicht. Er respektierte sie, jawohl, das tat er, sie respektieren. Er wollte gar nicht an ihren Körper denken, ihr Körper war unwichtig. Sie war eine hinreißende, liebenswerte, intelligente, sympathische Frau, und dass sie äußerlich den Traum jedes Mannes verkörperte, tat ja wohl nichts zur Sache.
Sven war sich natürlich darüber im Klaren, dass Lisa ihr Erscheinungsbild ganz anders empfand. Immer wieder beklagte sie sich über ihr „Übergewicht“, dieses dämliche Wort, das die Körperfaschisten erfunden hatten. Sven versäumte keine Gelegenheit, um sie auf die seiner
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