Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
nicht zu viel vom Leben erwarten. Und die geplante Befragung der engsten Kollegen von Krumm war ebenfalls für morgen anberaumt, geplant war eine kleine Versammlung bei einem Schnittpunkt ihrer Schichten.
Lisa Becker lenkte ihren Wagen durch die Innenstadt nach Kreuzberg, während sie über ihre kuriose Wahlheimat nachdachte. Und über ihren Wahlberuf.
Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Zum einen, weil sie einfach Feierabend machte. Aber so war das eben: Das Bild aus den Krimis von den Ermittlern, die an nichts anderes denken als den Mord und nicht ruhen, nicht rasten, bis der Fall gelöst ist, das war nun einmal Kappes. Nach Dienstschluss fuhr man nach Hause, äste zu Abend, sah fern und ging vielleicht noch in die Kneipe. Das war auch so weit roger für Lisa, allerdings war es doch meistens was anderes, wenn der Mord gerade geschehen war. Da schlug man sich normalerweise die Nacht um die Ohren, um Strategien zu entwickeln, Verdächtige auszusortieren, Theorien aufzustellen und so weiter, allein schon aus Anstand gegenüber dem Opfer. Aber dieses Mal nicht. Es gab zu wenig Spuren, keine ernsthaften Verdächtigen, nicht einmal die Ahnung eines Motivs - was sollte man da machen? Der nächste Tag würde hoffentlich mehr ergeben. Vielleicht wären sie und Fabian nicht nach Hause gefahren, wenn ihre Motivation höher gewesen wäre. Wäre das Opfer ein Kind oder eine junge Frau oder ein armes altes Mütterchen gewesen, ja, dann sähe das Ganze anders aus. Aber Fritz Krumm? Der Mann war offensichtliches ein wertloses Stück Scheiße, um das es nicht schade war und das vermutlich niemand vermissen würde. Keine nahen Verwandten (Hoffmann hatte einen Onkel ausfindig gemacht, der auf den Färöer-Inseln lebte, das war’s), keine Freunde, wie sein Nachbar Schultz glaubhaft gemacht hatte, und den Standpunkt seiner Kollegen konnte sie sich auch so ganz gut vorstellen.
Und das war das zweite, was Lisas Gewissen belastete. Sie hatte kein Mitgefühl für das Opfer. Sie bemühte sich redlich. Lisa, der Mann war ein Arschloch, aber darauf steht noch lange nicht die Todesstrafe. Du bist gegen die Todesstrafe, erinnerst du dich? Denk an Svens Vorträge zu dem Thema. Das trennt die zivilisierte Welt von der Barbarei, Lisa. Soll das heißen, auch die Amerikaner sind Barbaren? Und ob, oh ja, das sind sie, Lisa. Und dann kam seine Hasstirade gegen die USA. Die Achselhöhle des Bösen, die Geißel der Menschheit, das Globalisierungsmonster, das kriegssüchtige Dunkle Imperium und was wusste sie nicht noch alles. Sie war nicht in allem seiner Meinung, aber die Intensität, die besessene Leidenschaft, mit der er argumentierte, beeindruckte sie ungeheuer. Sie wünschte sich, selbst auch so sicher in ihren Überzeugungen zu sein, mit klaren Feindbildern und unerschütterlichen und durch nichts und niemandem zu verwässernden Überzeugungen, über Jahre, ja wahrscheinlich Jahrzehnte hinweg. Das musste ein schönes Leben sein, wenn alles so eindeutig war und es keinen Platz gab für Zweifel. Ihr Leben war voller Zweifel. Und die wenigen Gewissheiten waren nur deprimierend.
Sie tuckerte im Schildkrötentempo den Mehringdamm runter, so wie alle anderen Fahrzeuge auch. Die Radfahrer fuhren natürlich wieder, wie sie wollten, aber anders als die anderen Autofahrer gönnte Lisa ihnen das. Diese Leute bewegten sich wenigstens und schonten damit die Umwelt, anstatt ihre Ärsche in einer klimazerstörenden, stinkenden Metallkutsche durch die Gegend zu transportieren. Nun, sicher, das tat sie auch, aber nicht mit dem Herzen!
Und das fand sie wichtig. Sie konnte außerdem schließlich nicht mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, wie sah das denn aus? Oder mit der Bahn? Du lieber Himmel, also wirklich. Das war schon komisch genug, wenn sie beispielsweise ältere Krimis von Colin Dexter las, der seinen Chief Inspector Morse doch tatsächlich des öfteren mit dem Bus durch Oxford kutschierte. Mit dem Bus Verbrecher jagen! Diese Engländer, bekloppt.
Lisa nahm auf dem Weg von ihrem Parkplatz zur Wohnung einen Döner mit. Sie hatte kaum was gegessen, abgesehen von der Portion Gulasch und der zweiten Portion Gulasch und dem Nachschlag.
Ich sollte es wirklich mal mit diesen Fünf Elementen versuchen , dachte sie, als sie ihre Wohnungstür aufschloss. Oder wenigstens mit zwei oder drei Elementen, so für den Anfang, und dazu ab und an ’ne Pizza. In ihren lichteren Momenten sah sie ein, dass sie einfach nicht der Typ für Diäten war. Zu wenig Willenskraft,
Weitere Kostenlose Bücher