Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
stand auf. Sie ließ noch einmal die Atmosphäre auf sich wirken. Sie vergegenwärtigte sich, was vorletzte Nacht hier geschehen war. Dann folgte sie ihrer Intuition.
Sie schaltete das Licht wieder aus. Der Raum war – bedingt durch die dichten Vorhänge – nun sehr dunkel. Etwas Licht drang herein durch die Lampe, die sie in der Küche hatte brennen lassen. Schwer zu sagen, wie viel der Mörder vorvergangene Nacht sehen konnte. Ob er eine Taschenlampe bei sich gehabt hatte? Aber wie konnte er dann den Hieb ausführen, nur mit einer Hand? Unwahrscheinlich. Vielleicht hatte er die Vorhänge aufgezogen, oder sie waren gar nicht erst zu gewesen. Licht hatte er doch bestimmt nicht gemacht.
Lisa entschloss sich, auch das Licht im Bad auszuknipsen. Als die Wohnung so dunkel wie möglich war, nahm sie sich eine Ausgabe von „Megabusen total“, rollte sie zusammen und glitt vorsichtig durch das Dreivierteldunkel durch die Diele ins Schlafzimmer zurück.
Im Bett lag nun wieder der Bahnfahrer Fritz Krumm. Er schnarchte. Garantiert schnarchte er. Aber er würde gleich aufhören, für immer. Lisa trat ans Bett heran und begab sich in eine günstige Position für den Hieb. Präzise nahm sie Maß, denn sie wusste, der erste Schlag musste treffen, wenn es reibungslos funktionieren sollte. Lisa hob ihre Waffe und ließ sie langsam herab bis kurz vor dem Adamsapfel. Krumm bewegte sich kaum, sein Schlaf war tief und fest. Lisa war durchaus nicht schwach, aber sie musste ihr Werkzeug in beide Hände nehmen, um sicher zu sein, genau zu treffen. Sie hob die Waffe, atmete noch einmal tief durch und ließ sie niedersausen.
Ein Geräusch wie ein Dammschnitt. So stellte Lisa es sich jedenfalls vor, als sie sich wieder in die Realität zurückholte. Wie mag das Geräusch gewesen sein, bei dem das Fleisch des Halses, die Luftröhre und vor allem die Wirbelsäule durchtrennt wurden? Ein TSCHOK oder mehr ein WITSCH oder eine Art KLACK? Ob Krumm noch irgendetwas von sich geben konnte, einen erstickten Laut, ein Stöhnen oder Krächzen? Einen Ton, der in der Kehle entstanden war und nun durch die abgetrennte Luftröhre ins Freie kam?
Wie lange der Mörder wohl in der Wohnung war? Es konnten durchaus nur ein oder zwei Minuten sein, aber auch ein oder zwei Stunden. Vielleicht war er eine lange Zeit verharrt, vor oder nach der Tat, hatte sein Opfer angestarrt und sich noch einmal die Gründe ins Gedächtnis gerufen, warum er dies nun tun musste. Falls es überhaupt Gründe gab.
Wenn der Mörder eine Taschenlampe bei sich gehabt hatte, dann hatte er sie vielleicht auf den Boden gestellt, mit der Birne nach oben, als eine Art Mini-Deckenfluter. Das Licht hätte wohl ausgereicht. Eine überflüssige Frage, wie Lisa beschied. Interessanter war es schon zu erfahren, wie gut sich der Scharfrichter in der Wohnung seines Opfers ausgekannt hatte. War es nötig, den Grundriss zu kennen? Nein. Diese Altbauwohnungen sahen doch alle gleich aus. Diele, Küche, Bad, Wohnzimmer und/oder Schlafzimmer. Alleinstehende machten die Tür ihres Schlafzimmers vermutlich niemals zu, wenn sie schlafen gingen – wozu auch? Und selbst wenn, so what? Für den Mörder jedenfalls reichte es vollkommen, zu wissen, welche Wohnung die von Fritz Krumm war. Und wer weiß, vielleicht wusste er nicht einmal das? Vielleicht interessierte es ihn gar nicht, wer sein Opfer war? Vielleicht wusste er immer noch nicht den Namen des Kopfes, denn er von seinem Körper getrennt hatte. Vielleicht war es ihm scheißegal. Aber das glaubte Lisa nicht. Sie war sich sicher.
Und sie hatte recht.
Vierzehn
Am Abend erholten sich Lisa Becker und Fabian Zonk in einer Kneipe in Fabians Wohnort Spandau. Hier war es ruhiger, denn samstags ging in der Berliner Szene naturgemäß die eine oder andere Post ab, was bedeutete, dass die Wirte den Musiklärmpegel in ungeahnte Höhen trieben. Warum es offenbar ein ungeschriebenes Gesetz war, die Musik stets so laut aufzudrehen, dass eine vernünftige Unterhaltung nicht mehr möglich war, gehörte zu den vielen Rätseln des Abendlands. Lisa dachte wehmütig an die ruhigen, gemütlichen Cafés und Kneipen in Bad Münstereifel. Na ja, nicht gerade das Heino-Café, in das sie von ihrer Mutter mehrmals mitgeschleift worden war, aber ansonsten gab es ein paar wirklich angenehme Lokale dort, in denen sie es stundenlang aushalten konnte, weil die Musik dezent im Hintergrund blieb. Anders in Berlin. Hier war man zumeist auf die Zeichensprache
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