Halbe Leichen (Ein Lisa Becker Krimi) (German Edition)
einem bürgerlichen Anhängsel Neuköllns. Die meisten Einwohner fanden im Leben nicht hierher, obwohl ihnen dabei durchaus etwas entging, denn es war schön dort. Im tiefsten Südwesten gelegen, gab es hier noch viel Grün und wenig Hochhäuser. Die vermögendere Mittelschicht residierte hier in Reihen- und Einfamilienhäusern, aber auch Ausländer, die es zu etwas gebracht hatten und aus dem Neuköllner Ghetto raus wollten, ohne sich zu weit von Freunden und vertrauter Umgebung zu entfernen, residierten hier. Lisa beobachtete während der Fahrt mindestens ein halbes Dutzend migrationshintergründelnde, gut gekleidete Frauen, die einen Kinderwagen vor sich her schoben und offenbar mit sich und der Welt sehr zufrieden waren. Sogar zwei gemischte Paare fielen ihr auf, weiße Frau und schwarzer Mann, mitsamt Nachwuchs. Vielleicht war es die Nähe zu diesen Menschen, die Walter Fechner auf den Plan gerufen hatte. Diese Schwarzen, diese Türken und andere Undeutsche, die plötzlich in seinen Vorort, in seine Privatsphäre eindrangen, und mit denen er auf einem Flecken leben musste. Es gab genug Leute, denen das Angst machte. Fechner konnte diese Angst gut für sich nutzen, da er sie selber verspürte.
„ Da drüben waren wir ja kürzlich erst“, bemerkte Lisa und zeigte in Richtung Buschkrugallee, wo die Nielsens wohnten.
„ Ja, willst du vorbeigehen und Guten Tag sagen?“
„ Sehr komisch. Wobei die sicher froh sind, dass sie nicht mehr verdächtigt werden.“
„ Werden Sie das denn nicht mehr?“
Fabians Frage brachte Lisa aus dem Konzept. „Wie meinst du das?“
„ Wir wissen nicht, ob sie ein Alibi haben.“
„ Wir wissen noch nicht einmal, ob sie ein Motiv haben!“
„ Schon richtig“, entgegnete Fabian ruhig, „aber wir sind Polizisten, schon vergessen? Und wir haben drei Morde, vom selben Täter begangen, wie ich mal mutig maße. Bei einem der Morde haben die Nielsens ein Motiv, aber auch ein Alibi. Bei dem zweiten Mord haben sie zumindest ein latentes Motiv, der Tote war ein Arschloch, der auf ihren Gefühlen rumgetrampelt hat. Alibi Fehlanzeige. Und das dritte Opfer ist ein amtlich beglaubigter Rassist, was Georg Nielsen und seiner Frau Leily sicher nicht gefallen hat. Vielleicht haben die ihn sogar gekannt, sie wohnen ja nicht weit voneinander entfernt.“
„ Du willst sagen, dass du sie verdächtigst?“
Fabian schüttelte den Kopf. „Nicht im geringsten. Völlig aberwitziger Gedanke. Aber ermitteln werden wir trotzdem in dieser Richtung, alles klar, Frau Oberkommissarin?“
„ Jawohl, Herr Hauptkommissar.“
Lisa zuckte gleichgültig mit den Schultern. Mit irgendwelchen Ermittlungen mussten sie sich ja die Zeit vertreiben. Natürlich würde der Druck jetzt noch um einiges zunehmen, aber es war nicht so, dass durch die steigende Zahl der Morde der Fall einfacher wurde. Auch das dritte Opfer wollte in keine nachvollziehbare Reihe passen, sehr wahrscheinlich gab es zwischen den drei Männern keine nennenswerte Verbindung. Oder besser gesagt: Hoffentlich.
„ Das erste, was wir überprüfen müssen“, fuhr Fabian fort, „ist natürlich eine mögliche Verbindung zu Richard Weinstein. Und wenn es eine gibt, haben wir echt ein Problem.“
„ Wer braucht eine Verbindung?“ schnaubte Lisa. „Er ist Jude, und der Tote ist ein rechtsradikaler Alleshasser, das reicht als Motiv. Zumindest für die Pressemonster. Die wollen doch Blut sehen, schon um wieder ruhig schlafen zu können. Ich kann mir vorstellen, dass viele von diesen Boulevard-Ärschen ihr Schloss in den letzten Nächten zweimal abgesperrt haben.“
„ Okay, wir checken als allererstes seine Nacht.“
„ Ich hoffe, er tut uns den Gefallen und hat was Gutes parat.“
Den Gefallen tat er Lisa nicht. Richard Weinstein äußerte Betroffenheit über den Tod von Walter Fechner, als Lisa ihn kurz darauf von ihrem Büro aus anrief. Er war in der Nacht schlicht und ergreifend schlafenderweise zu Hause gewesen, neben seiner Frau, die – welch ein Zufall – ebenfalls geschlafen hatte. Das klang so wahrscheinlich, das konnte einfach nicht wahr sein, so dachte Lisa zynisch, aber das Mobile Einsatzkommando, welches die ganze Nacht vor Weinsteins Haus kampiert hatte, in einem hübschen kleinen VW-Bus mit der Aufschrift „Derrick-Anglerbedarf“, was wohl irgendjemand wahnsinnig komisch gefunden hatte, bestätigte zumindest, dass sie ihn nicht hatten rauskommen sehen.
„ Ich wünschte ja, ich hätte mehr zu bieten, Frau Becker“,
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