HalbEngel
neue Ansatz sein, genau jenes bislang noch unentdeckte Detail, das ihm sein nächstes Monatseinkommen sichern würde.
»Diese Sache würde mich sehr interessieren. Könnten Sie etwas darüber erzählen?«
»Och, es ist eigentlich nichts von Bedeutung. Floyd war sieben oder acht Jahre alt – so genau erinnere ich mich da nicht mehr, aber es ist auch gut möglich, dass er sieben und acht Jahre alt war, weil die Sache ja längere Zeit andauerte –, jedenfalls, da entwickelte der Junge eine eigentümliche Zuneigung zu Kirchenglocken. Ich weiß noch, wie es war, als ich es zum ersten Mal bemerkte. Wir waren zusammen einkaufen, er an meiner Hand, und es war genau vier Uhr nachmittags. Die Glocken der St. Martins Cathedral fingen an zu tönen, viermal, aber in unterschiedlichen Tonhöhen, weil es – glaube ich – vier Glocken sind. Also sechzehn Schläge insgesamt. Und der kleine Floyd blieb wie angewurzelt stehen und starrte mit offenem Mund nach oben in den Himmel, und als die Klänge im Wind verwehten, starrte er mich zitternd an und sagte: ›Omi, der liebe Gott macht wieder Musik.‹ Ich habe mich später gefragt, wie er die Glocken gleich richtig zu Kirche und Gott zuordnen konnte, aber es war wahrscheinlich nur, weil die Töne von oben kamen, direkt aus dem Himmel.«
»Hatte er vorher denn noch nie Kirchenglocken gehört?«
»Es ist gut möglich, dass er noch nie welche aus dieser Nähe gehört hatte. Wir sind keine besonders religiöse Familie, müssen Sie wissen, wir sind also mit dem Kind auch nie zur Kirche gegangen. In unserem Wohnviertel gibt es zwar auch eine Kirche, aber die bimmelt nur, die hat keinen richtigen Glockenturm. Als ich Roddy zu Hause von der Sache erzählte, sagte er nur, dass er auch schon ein- oder zweimal mit Floyd zusammen in der Stadt die Glocke gehört hatte und der Kleine genauso reagiert hätte. Ich glaube, Floyd kannte den lieben Gott eher aus den Oscar-Wilde- und O.-Henry-Märchen, die Roddy ihm immer vorlas, als aus der Bibel. Das alles muss einen großen Eindruck auf ihn gemacht haben. Jedenfalls verlor er dann schnell den Glauben, dass diese Töne aus dem Himmel kommen. Roddy klärte ihn wohl auf. Die Faszination aber hielt sich noch lange. Einmal, als Roddy mit Floyd ein paar Weihnachtseinkäufe in der Nähe der Cathedral erledigte, büxte der Junge aus, und Roddy fand ihn oben im Glockenturm, wie er im unbeschreiblichen Lärm des Läutgetöses mit der Hand die schwingenden Glockenkörper berührte, bis sein kleiner Körper ganz zu vibrieren anfing. Roddy ging hinterher zum Ohrenarzt mit ihm, aber der konnte keine Schäden feststellen. Was Lärm angeht, scheint Floyd sowieso schon immer seltsam abgehärtet gewesen zu sein. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich einmal von der Küche aus den ›Bolero‹ von Ravel zu hören glaubte, nur merkwürdig flach klingend und ohne Kontur, wie ein Geist, und wie ich den Tönen nachging und dann Floyd in seinem Zimmer sitzend fand, mit Kopfhörern auf, unter denen er den ›Bolero‹ mit bis zum Anschlag aufgedrehter Lautstärke hörte. Es muss ein derart infernalischer Lärm unter den Kopfhörern gewesen sein, dass dem kleinen Jungen auch tatsächlich Tränen in den Augen standen.«
»Wie alt war er da? Auch sieben oder acht?«
»Na, schon etwas älter.«
»Und wie war er ausgerechnet auf den ›Bolero‹ gekommen?«
»Sie hatten ihn gerade im Musikunterricht durchgenommen. Floyd hatte den Rhythmus zu trommeln gelernt, und Roddy hatte eine Aufnahme in seiner kleinen Plattensammlung, die hatte sich der Junge halt rausgesucht.«
»Und hat er sich zu der Lautstärke geäußert? Warum hat er nicht leiser gedreht, wenn er schon weinen musste?«
»Er wollte nicht leiser drehen. Es war wie bei den Glocken. Er sagte zu mir: ›Omi, da ist eine Musik hinter der Musik, da sind noch viel mehr Stimmen als nur die von den Instrumenten. Das kann man nur hören, wenn es ganz, ganz laut ist.‹«
»Sehr interessant. Sie sagten, die Plattensammlung Ihres Sohnes war eher klein ...«
»Eher klein, ja. Roddy war nicht sehr musikalisch geprägt. Eher literarisch.«
»Und wann fing Floyd an, sich selber Platten zu kaufen?«
»Na, so wie andere Jungs auch, nehme ich doch an. So mit elf oder zwölf.«
»Und wissen Sie noch, was das für Platten waren?«
»Du liebe Zeit, als ob ich mich damit auskennen würde. Irgend so’n neumodischer Rock halt, den man ordentlich laut hören konnte.« Mrs. Timmen schüttelte sich lachend. »Für Klassik
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