Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
Vom Netzwerk:
hatte er nur etwas übrig, wenn sie ordentlich rhythmisch war. Den Bolero mochte er sehr gerne, einige Sachen von Gershwin und Dvořák und Borodin und – glaube ich – die ›Symphonie Phantastique‹ von ... von wem ist die doch noch mal gleich ... von Bartók, oder?«
    »Tut mir leid, damit kenne ich mich nun wiederum nicht aus.«
    »Bartók oder Berlioz, die beiden verwechsle ich immer. Jedenfalls konnte er Beethoven und Brahms und Vivaldi und Debussy und Mozart überhaupt nicht leiden. Wegen Mozart ist er ja letzten Endes sogar von der Schule geflogen.«
    »Der Zwischenfall mit dem Lehrer, Mister ...«
    »Mister Gorelny.«
    »Richtig. Mister Gorelny.«
     
    Die Schüler sind siebzehn Jahre alt. Ihr Lehrer, Fiodor Gorelny, das dreifache.
    Don Giovanni ist dran, Leporello (in der Verkörperung durch José Van Dam) profiliert sich gerade durch die Registerarie. Gorelny erläutert geflissentlich, lauscht dazwischen immer wieder mit vorgerecktem Kopf, die Augen halb geschlossen, der zarten Musik. In dieser Haltung erspäht er Timmen, wie immer fast ganz hinten auf dem Stuhl lümmelnd, einen Walkman auf. Wenn Gorelny sich konzentriert, kann er bis hierher hören, dass Timmens Walkman an ist, ganz schön laut.
    Gorelny, mit dem Finger den Mozarttakt gebend, durch die ungeordneten Stuhlreihen nach hinten schlendernd, an gelangweilten und auch ein paar aufmerksamen Schülern und Schülerinnen vorbei. Timmen, Rattle & Hum hörend, momentan sein Lieblingsalbum, momentan ›Hawkmoon 269‹, sieht den Lehrer, starrt ihm von unten herauf entgegen, macht keine Anstalten, den Walkman auszumachen. Like a rhythm unbroken, like drums in the night, like sweet soul music, like sunlight I need your love. Gorelny verhält, unterhält sich mit dem Schleimscheißer Blockman über diese und jene Passage, wie virtuos und so. Like black coffee, like nicotine I need your love. Gorelny kommt näher, erläutert seinen Schülern noch dieses und jenes virtuose Detail, weist sie darauf hin zu hören, wirklich gut zuzuhören, Musik, die durch die Jahrhunderte und über die Weiten des Atlantischen Ozeans zu ihnen spricht. Kann sich dabei das Dirigieren nicht verkneifen, versucht womöglich, durch reine Gestik, Akzentuierung von Dynamik, Timmens und das der anderen Unaufmerksamen Interesse zu wecken und gestaltet sich dabei nur als Hampelmann eines lebensuntüchtigen Lehrplanes. Like thunder needs rain like the preacher needs pain like tongues of flame like a sheetstain like a needle needs a vein like someone to blame like a thought unchained like a runaway train. Gorelny, vor Timmen angekommen, nimmt ihm fast väterlich den Kopfhörer aus den Haaren. Bonos Geschrei schrumpelt in Floyds Schoß zusammen, Don Giovanni bricht wie DeMille’s Rotes Meer von beiden Seiten über ihm zusammen.
    »Auch wenn Sie sich aufgrund Ihrer Mitgliedschaft in einer vornehmlich lauten Schülerband über die Kompositionen der europäischen Klassik sicherlich erhaben fühlen, Mister Timmen, wäre ich Ihnen doch sehr verbunden, wenn Sie Ihr Desinteresse nicht in ganz so aufreizender Weise zur Schau stellen würden. Außerdem behindern Sie mit ihrem Lärm aufmerksamere Mitschüler, denen vielleicht später im Leben noch Höheres vorschwebt als Sex, Drugs, Rock’n’Roll und die Sozialhilfe.«
    »Wer stellt hier denn Desinteresse zur Schau? Das sind ja wohl Sie.«
    »Ich glaube, ich verstehe Sie nicht richtig, Mister Timmen. Die ganze lärmige Orchestermusik muss mir schon ganz das Gehör ruiniert haben.«
    »Der Mist, den Sie uns da vorspielen, hat nichts zu tun mit uns und unserer Zeit oder unserem Leben. Was soll bloß dieses ganze Geschrammel und Gejaule? Was soll das sein? Da, was soll das darstellen? Was soll uns das zeigen? Dieses Tonartengedudel ist so blödsinnig und einfältig; auf dem Klo könnte ich das komponieren. Da muss man wirklich keine Noten für können.«
    »Ah, jetzt verstehe ich Sie schon besser. Sie sind ein besserer Komponist als Mozart.«
    »Klar. Und da ist ja auch wohl verdammt noch mal keine große Leistung dabei. Jeder obdachlose Doo-Wop-Mann an der Straßenecke hat mehr Musik im Blut als Mozart oder Beethoven oder wie sie alle heißen. Wenn die wirklich alle so genial gewesen sind, warum ist denn dann keiner von ihnen jemals auf die Idee gekommen, ein paar Bluesakkorde oder rhythmische Gebrochenheit zu spielen? Sie hatten doch alles, was man dazu braucht: eine Klaviatur. Aber sie hatten’s einfach nicht drauf. Sie konnten’s nicht. Sie

Weitere Kostenlose Bücher