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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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klimperten ihr ganzes Leben lang einfältig melodiös und kalt-mathematisch verschachtelt herum. Man muss schon verdammt beschränkt sein, um das heutzutage noch toll zu finden, Mister Gorelny, bei allem Respekt. Wenn Sie mal hören wollen, wie man Streicher einsetzen muss, dann hören Sie sich doch mal an, was Van Dyke Parks da in ›All I Want Is You‹ hingezaubert hat. Das ist Musik, nicht dieser ganze Notenpapierfuck ohne jede Gefühlsregung.«
    »Ich hatte eigentlich gehofft, dass sich gerade Ihnen das Rebellische in Mozarts Musik erschließen würde, aber wie ich sehe, kann ich ja schon froh darüber sein, Sie überhaupt einmal zum Reden gebracht zu haben.«
    Die beiden messen sich mit Blicken. Mozart tänzelt im Hintergrund herum. Die Aufmerksamkeit aller Schüler ist – erwacht – auf Floyd und den Lehrer gerichtet. »Klassik ist für gepuderte Tunten«, legt Floyd nach. »Alle anderen sind drüber weg.«
    »Vielleicht wäre es Ihnen ja möglich, uns zu demonstrieren, wie gute Musik auszusehen hat. Aber ohne das Band in ihrem Walkman. Sie sagten gerade, dass alles, was man zum Komponieren braucht, die Klaviatur eines Pianos ist. Nun, so eine haben wir ja glücklicherweise hier. Vielleicht könnten Sie zu unser aller Verständnis beitragen, wenn Sie Ihre halbstarken Sprüche mit Taten untermauern könnten, Mister Timmen.«
    »Ich bin Gitarrist, kein abgefuckter Klimpermann.«
    »Dann geht es also hier nicht um Musik, sondern um den Klang bestimmter moderner Instrumente? Dann haben die klassischen Komponisten also niemals eine Chance gehabt, Ihr geschultes Gehör zu erreichen, Mister Timmen?«
    »Das ist doch Bullshit.« Floyd steht auf und geht bedrohlich auf Mozart zu. Gorelny folgt ihm, bittet das Auditorium um Geduld, schaltet das Don Giovanni -Tonband ab, während Floyd die graue Staubplane von dem kleinen Klavier rupft, den Tastendeckel hochklappt und auf dem Drehhocker Platz nimmt. Gorelny kommt hinter ihn, weist das gespannte Publikum mimisch um Ruhe an, präsentiert ironisch den neuen Meister der Moderne.
    Mit wütendem Gesicht spielt Floyd Klavier. Hat keine Ahnung, wie man die richtigen Akkorde greift, noch wo die Töne liegen, die er sucht. Beschränkt sich zuerst auf die weißen Tasten, erzielt dann Misstöne mit den schwarzen. Rammt das Hallpedal voll durch und schlägt rhythmisch betont irgendwelche Tasten an, merkt sich ihre Position, ihren Klang, wiederholt und variiert, probiert, erzeugt einen rauschenden Widerhall-Lärm auf den verlockend tiefen Tasten weit links, beißt sich rechts mit glasharten Tönen ins Gehör. Spielt so laut er kann, bringt durch abwechselndes Zittern von Zeige- und Mittelfinger Triller und Vibratos ein, steht spielend auf, haut mit schon mehr Überblick aufs Instrument, findet durch Zufall Harmonien, streut sie wiederholt mit ein, baut Schwebung auf Schwebung, erfüllt den ganzen Raum mit dröhnenden Überschneidungen und Aufschaukelungen. Es ist das Spiel von jemandem, der das gespielte Instrument überhaupt nicht beherrscht, dessen musikalische Fähigkeiten aber groß genug sind, das Melodieinstrument einfach als Percussion zu benutzen und aus rhythmisch versierten Strukturen so etwas wie eine vertrackte Harmonik zu errichten.
    Die Schüler lauschen gespannt, einige mit verzerrten Gesichtern, andere unsicher lachend, wieder andere begeistert und den Takt mitwippend. Gorelny steht neben dem Klavier mit so etwas wie erstauntem Entsetzen in seiner Miene. Der Lärm des wieder und wieder bis zum Bersten gefüllten Halls ist so groß, dass das strapazierte Holz des Klangkastens zu brummen beginnt und die Cymbals weiter hinten in der Instrumentenecke vibrierend zu rasseln beginnen. Und dann passiert das Unheimlichste. Während der bombastische Hall eigendynamisch weiterläuft, zieht Floyd die Hände von den Tasten, wendet sich zu seinem Musiklehrer hin um, greift ihn am Arm und im Genick und beugt den Oberkörper Gorelnys nach vorne um, bis der wie gelähmte Lehrer mit dem Gesicht fast auf den Tasten zu liegen kommt. »Siehst du?«, wispert Floyd ihm ins Ohr, durch den unbeschreiblich langsam nur abebbenden Sturmwind im Inneren des Holzes. »Es ist alles da, alles, was man braucht, direkt vor deinen Augen. Kannst du es jetzt sehen? Kannst du es jetzt endlich sehen?«
    Es ist eine merkwürdige Szene. Der nach vorne gekrümmte Lehrer, das erstaunte Gesicht fast auf dem Klavier, der zerzauste, abgerissen wirkende Schüler über und neben ihm, die in Erschrecken erstarrten

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