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HalbEngel

HalbEngel

Titel: HalbEngel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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einem bluttriefenden, vielleicht an Angelhakendrähten zwischen den Rippen gespannten Menschenherzen drin. The Pope erinnert sich, auf der Rückseite einer Underground-Anthologie vor Jahren mal eine Zeichnung eines männlichen Oberkörpers gesehen zu haben, dessen Haut und Fleisch über dem Herzen soweit entfernt worden waren, dass man sehen konnte, dass dort anstatt eines Herzens ein grünes Echsending im ribcage eingesperrt war. Die Idee gefällt ihm gut, er will aber nicht plagiarisieren, also muss sie noch abgewandelt werden. »Morgen ›Market‹ hören und im Fahrwasser davon alles entscheiden«, sagt er, »alles.«
    Floyd und Nick und Hall (und Merle) gehen in dieser Nacht tatsächlich mal schlafen, um die Kräfte für den letzten Tag zu sammeln. Vorm Zubettgehen pfuscht Halloran allerdings entgegen Sletviks strikter Anordnung mit Koks herum. Utah nimmt in der Nacht zwei völlig unterschiedliche Piano-Gesangsversionen von ›Implication Storm‹ auf und komponiert noch ein drittes Stück, das sie ›The Flying Boy‹ nennt und für sich behält.
     
     
    3. Oktober.
    Stork ahnt schon, dass er seine Wette verlieren wird, als er gegen 6.30 am die Studiotür aufschließen will, um rechtzeitig alles vorzubereiten, und Utah ihm von innen öffnet. Als gegen 10.00 alle eingetrudelt sind, telefoniert er schon mit dem Discounter, der ihm den Kasten Cider für heute Abend liefern soll.
    Utah hat in der Nacht eine tolle Idee gehabt, was man aus ›Legless Bird‹ machen könnte, wenn man das eigentlich sehr melodische, geradlinige Stück eben nicht nur – wie ursprünglich von ihr geplant – durch eine Art Windspur verändert, sondern die Windspur zusätzlich noch gegen die Melodik anblasen lässt: eine verzerrte Gitarre, die andauernd in völliger Beliebigkeit und somit gegensätzlich zur Führmelodik rauf- und runterschleift wie so eine Art Albatros, der in verschiedenen Windströmungen segelt. Mit Begeisterung macht man sich ans Werk, aber es wird dann doch eine ähnliche Plackerei draus wie bei ›Goodbye‹: neun Takes, bis der Erste dabei ist, mit dem The Pope zufrieden ist, fünf weitere, dann rastet etwas ein, und alle merken, dass der Nächste es werden wird. Tatsächlich wird die Fünfzehn dann abgesegnet. ›Legless Bird‹ ist jetzt tatsächlich, single- und radiotauglich, gibt allen verdummten Chartsales-Jüngern da draußen aber immer noch genügend Scheiße zu fressen, um den Geist des Independent hochzuhalten.
    Zwei Stunden Pause mit dem gewohnt fettigen Catering einer ortsansässigen Lieferpizzeria.
    Dann geht The Pope , gefolgt von ein paar minderen Bischöfen und Mönchen, durch die Gänge, regelt überall das Licht herunter bis auf Fast-Null, fragt in jeden Raum hinein »Are you ready fo’ the Market?« und erzeugt somit eine Atmosphäre klerikaler Gespanntheit, an der man Molotowcocktails entzünden könnte.
    Mercantile Base Metal Index findet in fast vollkommener Dunkelheit im Aufnahmeraum zusammen, stolpert und flucht sich zu den Instrumenten durch. Alles ist zu hören, nichts zu sehen. Der Cider-Lieferant stört nur kurz, er wird dazugebeten, zu ewigem Stillhalten vereidigt.
    The Pope sitzt auf einem billigen Alustuhl und denkt darüber nach, ob er noch irgendwas vergessen hat, ob noch irgendwas fehlt. Nein, er hat die Spuren von zwölf großartigen Songs im Kasten, von denen zehn nur noch abgemischt zu werden brauchen, um ein Album zu ergeben, das wie eine startende Apollo-Rakete durch das unüberschaubare Mittelmaß des jährlichen CD-Angebots splittern wird. Es ist lange her, denkt er lächelnd, dass er das letzte Mal ein Album guten Freunden gezeigt hat und stolz gemurmelt hat, das hier, schau, das hier ist mein Name.
    Mercantile Base Metal Index . Live im Overripe. Go.
    Es beginnt.
    Floyd reißt sämtliche Saiten gleichzeitig an, zu maximaler physischer Beanspruchung. Der Verstärker stöhnt auf, verzögert überlastet und stößt dann einen Klang weit von sich, der wie das Sterben der Titanic klingt. Mit einer Bewegung wie ein mittelalterlicher Henker, der mit der Axt zuschlägt, fällt Utah von der Seite her mit ihrer Rickenbacker ein, und die beiden entfesseln einen speichelgischtenden Amok-Lärm, der durch Interferenzen und Rückkopplungen über die Grenzen der akustischen Verständlichkeit hinausgeschleudert wird. Nach vier Minuten tastet sich Nick wie auf Katzenpfoten in den atonalen Rausch, schlägt dann dort Kletterhaken fest, und Hallorans Bass bildet ein melodisch

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