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Halbgeist: Roman

Halbgeist: Roman

Titel: Halbgeist: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam-Troy Castro
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dickeres Seil um meine Brust knüpften. Tief in den unzähligen Rankenschichten verankert hielten sie den größten Teil meines Gewichts und erlaubten es mir, meine Arme frei zu bewegen, sollte ich sie brauchen, schützten meine Glieder vor unwillkürlichen Reaktionen auf eine anderenfalls quälende Anstrengung. Mein Verstand schätzte die zusätzlichen Vorsichtsmaßnahmen in Hinblick auf die Absturzgefahr durchaus, aber mein Bauch betrachtete sie bestenfalls als illusorisch.
    Die Sturmwolken unter mir waren so unglaublich hungrig.
    Ich kämpfte immer noch darum, meine Atmung unter Kontrolle zu bringen, als die Porrinyards sagten: »Andrea? Da sind noch ein paar Dinge, die du wissen solltest.«
    Und unter diesen auch der Hinweis darauf, wie dämlich ich war, mich auf diese wahnsinnige Situation einzulassen. »Dann los.«
    Jeder der Porrinyards legte mir beschützerisch eine Hand auf eine Schulter. »Die meisten Leute haben ein bisschen Angst vor Höhe. Eine milde Form der Akrophobie ist durchaus gesund. Aber extreme, unkontrollierbare Akrophobie ist wie eine gefährliche Bestie. Viele extreme Akrophobiker fürchten die Höhe nicht, weil sie Höhenlagen grundsätzlich als gefährlich betrachten, sondern weil sie sich selbst nicht trauen, wenn sie einer Gelegenheit zum Sprung so nahe sind. Sie sehen sich selbst einem Impuls unterliegen. Mit anderen Worten ist nicht die Angst vor der Höhe das, was sie tatsächlich lähmt, sondern die Angst vor dem eigenen Antrieb.«
    Ich überlegte, wie einfach es wäre, die Schutzleinen zu lösen und in die Tiefe zu stürzen, und stellte fest, dass der Gedanke, so entsetzlich er war, doch auch viel zu verlockend erschien. »Das sagst du jetzt.«
    »Wäre ich nicht überzeugt, dass du dich derzeit unter Kontrolle hast, würde ich dich hier nicht allein lassen.«
    Ich kämpfte gegen die zunehmende Hysterie an. »Ich hoffe nur, du liegst richtig.«
    »Ich auch. Du bist wunderschön.«
    Überwältigt von der Entfernung zwischen mir und den Sturmwolken ließ mich meine Besonnenheit im Stich. »D-du auch.«
    Sie präsentierten mir ein gepaartes, von blendend weißen Zähnen geprägtes Lächeln. »Ich freue mich auf den Tag, an dem du deinen inneren Widerstand überwindest.«
    Verdammt, das war nicht fair. »D-das könnte schwierig werden. Ich bin nicht die Art Mensch, die sich zu irgendetwas überreden lässt.«
    »Ich bin im Vorteil«, sagten sie. »Ich bin dir zahlenmäßig überlegen.«
    Woraufhin sie sich niederkauerten, in der speziellen Gravitation des Gleiters ihr Gleichgewicht suchten und fanden und mit einem letzten Winken beschleunigten. Damit nahmen sie mir sowohl das Licht als auch meine letzte Chance, doch noch einen Rückzieher zu machen.
    Es war albern, Furcht zu empfinden. Furcht war weiter nichts als die unwillkürliche Reaktion des Körpers auf eine erkannte Bedrohung. Furcht beschleunigte Herzschlag und Respiration, verstärkte die Transpiration; Furcht vernebelte den Geist und lähmte die Glieder, und ich werde sterben war kein Thema, das sich logischen Argumenten über seine eigene Kontraproduktivität öffnete.
    Im Augenblick umfasste das verheißungsvollste Bild in meinem Geist ein plötzliches Nachgeben des Überwuchses. Sagen wir, ein paar Haarrisse an einer Stelle, die zuvor bereits von Brachiatorenklauen geschädigt wurde und nun durch meine eigenen unwillkürlichen Bewegungen bis zum Bruch strapaziert wurde, ein Bruch, der sich immer weiter ausbreitete, wenn Zellwände rissen und die fortdauernde Belastung die Wunden im Geäst weiter klaffen ließ. Ich werde sterben wandelte sich blitzartig zu Oh, Juje, und ein ganzer Abschnitt der Ranken gab auf einmal nach und spie mich hinab in den gleichen Abgrund, der Santiago das Maul gestopft hatte, und wie weit konnte ich wohl fallen, ehe ich den Winddruck im Gesicht spürte und wusste, dass es keine Hoffnung mehr gab? Einen Meter? Zwei? Drei?
    Ich schloss die Augen.
    Ich werde sterben.
    Aber auch das bedeutete nichts, weil wir alle sterben mussten und jeder Atemzug, den ich dem Universum abrang, ein weiterer Atemzug war, den mir zu verwehren die Albträume meiner Kindheit versagt hatten. Wenn ich atmete, so war das ein Akt des Trotzes. Wenn ich atmete, so war das ein Sieg. Wenn ich atmete, so war das ...
    Oh, verdammt.
    Meine letzte Mahlzeit kam hoch und schoss wie ein gewaltiger vulkanischer Komet zwischen meinen Lippen hervor.
    Das war einer der Gründe, warum ich darauf bestanden hatte, mit dem Gesicht nach unten

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