Halbmondnacht
Wut. Was zum Henker glaubst du zu gewinnen, wenn du mich derart quälst? Meine Wölfin wandte den Kopf ab und blieb reglos stehen, ganz als warte sie auf mich. Es dauerte einen Augenblick, ehe ich verstand. Sie wollte mich nicht verletzen. Sie wollte mir etwas zeigen. Geht es darum, was passiert, wenn das nicht Realität wird? Was willst du mir sagen, raus damit! Sie legte sich hin, den Kopf auf den Pfoten, und winselte. Nun sag es mir schon, denn ich verstehe echt nicht …
»Jess«, rief Tyler und schoss um die Ecke, »Naomi und Eamon haben sich abgesetzt.«
KAPITEL ZWANZIG
W as meinst du mit abgesetzt? Wie kommst du denn darauf?« Ich presste die Finger an die Schläfen. Wir sind noch nicht fertig miteinander , versprach ich meiner Wölfin. Sie aber schien alles vermittelt zu haben, was sie zu vermitteln in der Lage war. Jetzt hatte sie die Augen geschlossen. Wahrscheinlich ließ sich besser nicht in Worte fassen, was sie mir gerade gezeigt hatte. Das Gefühl von Verlust war immer noch unglaublich präsent. Ohne die Spur eines Zweifels wusste ich, dass etwas sich ändern würde oder für immer verloren wäre, würden meine Kinder nicht geboren. Allerdings war ich alles andere als sicher, ob ich wirklich ergründen wollte, was dieses ›etwas‹ war. Denn was immer ›es‹ war, es war etwas Großes, etwas, was mich in Angst und Schrecken versetzte.
»Ich weiß, dass Naomi weg ist, weil ich gerade Ray gefunden habe«, eröffnete mein Bruder mir. »Ich bin von hier geradewegs hinaufgeklettert. Die Bergspitze ist ein recht kleiner Kegel. Und Ray sitzt dort oben drauf und ist angepisst wie nie, weil man ihn dort hingesetzt und offenkundig vergessen hat. Naomi ist nie da oben aufgetaucht. Keine Rucksäcke, keine Vorräte, nichts da außer Ray. Sie hat sich abgesetzt.«
»Tja, sie würde uns aber niemals einfach so im Stich lassen; genauso wenig, wie James ohne einen wirklich triftigen Grund einfach das Rudel verlassen würde«, widersprach ich. »Irgendetwas ist schiefgelaufen.«
»Sag bloß! Hier läuft gerade einiges mächtig schief.«
»Tyler …«
»Wir haben keine Zeit, uns über Vorzüge und Wert der Treueversprechen von Vampiren zu streiten. Wir müssen endlich zuschlagen und unsere eigentliche Aufgabe angehen. Ich bin es leid zu warten.« Sein Gesicht verriet Entschlossenheit. »Und ich weiß, dass es dir genauso geht.«
Damit hatte er recht. Wir hatten tatsächlich keine Zeit mehr. »Hat Eamon sich zufälligerweise herabgelassen, einem von euch beiden zu zeigen, wo wir hinmüssen?«, fragte ich. »Oder zumindest Andeutungen über die ungefähre Richtung gemacht, ehe er auf und davon ist?«
»Er hat vage irgendwo da rechts rüber gezeigt«, antwortete Tyler. »Außerdem hat er uns gesteckt, dass das Portal durch einen Tarnzauber nach etwas ganz anderem aussieht als nach einem Eingang.«
»Ah, wie massiver Fels beispielsweise? Oder meinte er tatsächlich etwas ganz anderes?«, bohrte ich nach.
»In Einzelheiten hat er sich nun nicht ergangen. Aber wenn es nach massivem Fels aussähe, würde es ja nicht nach etwas ganz anderem aussehen, sondern genauso, wie alles andere hier«, meinte Tyler. »Ich vermute, es sieht aus, wie … sagen wir, wie ein Baum oder etwas anderes, das hier sofort auffällt. Nach etwas, an dem sich ein Sadist, den sich Selene zum Kaffeekränzchen einlädt, sofort orientieren kann, um nicht an ihrer Wohnstatt vorbeizulaufen. Felsen gibt es hier ja nun reichlich und genug.«
»Oh, klar, sicher ist sie hier oben häufig Gastgeberin von Zusammenkünften diverser Art«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. »Wahrscheinlicher ist, dass sie zu bequem ist, bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen sie hier hereinschneit, erst lange zu suchen. Mit anderen Worten: Das Portal ist so getarnt, dass sie es leicht findet.«
»Ich hab da mal ’ne kleine Zwischenfrage«, mischte sich nun Danny in den Geschwister-Disput ein. Er hatte sich zu dem letzten Rucksack hinuntergebeugt, der uns noch geblieben war, undzog gerade den Reißverschluss auf. »Haben wir die Zauberpfeile Naomi schon in die Hand gedrückt, oder sind die Dinger noch da?« Er hob den Blick und sah uns der Reihe nach an. »Zugegeben mag ich die Antwort auf diese Frage am liebsten gar nicht hören. Schließlich waren die Hexenzauber der einzige Vorteil, den wir für uns verbuchen konnten. Aber gut, lasst hören, es hilft ja eh nichts.« Rasch durchsuchte er den Rucksack, aber wir alle kannten die Antwort auf seine
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