Halbmondnacht
wie möglich. Dann kommen wir zu dir nach Kanada. Angesichts der Prophezeiung und der Ereignisse, die auf eine Einbeziehung der Unterwelt hindeuten, ist deine Reise nicht mehr länger nur die Suche nach deinem Gefährten und damit deine Sache. Von nun an sind wir im Krieg.«
Ich schloss die Augen und kniff mir in den Nasenrücken. »Dad, ich kann nicht so lange warten. Tut mir leid.« Ich spannte alle Muskeln in meinem Körper an. Was ich gerade gesagt hatte und noch sagen würde, war ein Affront gegen meinen Vater und den Alpha meines Rudels. Es passte mir nicht, ich mochte es nicht, ganz und gar nicht. Aber ich konnte nichts dagegen tun. »Bitte hör mich an. Ich kann nicht warten, weil Rourke die Zeit, die du noch brauchen wirst, nicht mehr hat. Ich weiß mit hundertprozentiger Sicherheit, dass Selene von unserer Anwesenheit hier an der Grenze zu ihrem Einflussbereich schon erfahren hat. Wir haben gerade zwei ihrer effektivsten Verteidigungen niedergekämpft. Sie wird sich auf gar keinen Fall noch viel Zeit lassen: Sie will ihr Spiel mit uns treiben, und das jetzt. Wenn ich meine Suche nach Rourke hier und jetzt unterbreche, ist er tot. Ich kann das nicht zulassen. Mir rennt die Zeit davon.«
Mein Vater schwieg. Ich spürte förmlich, wie sein Verstand auf Hochtouren lief. Die Lage war alles andere als ideal. Selene im Pakt mit der Unterwelt war fatal, egal von welcher Seite man es betrachtete. Wir beide wussten das. Ich musste es ihm erklären, immer weiter Gründe liefern, so lange, bis er endlich verstand. »Dad, mit mir ist etwas passiert, kurz bevor ich das Steingeschöpf aus Selenes Bann befreit habe.« Es war schwierig, es zu beschreiben, weil ich selbst kaum begriffen hatte, was mit mir passiert war. »Etwas in mir hat sich … tja, geöffnet. Meine Wölfin hat mirden Weg gezeigt, wie ich das Steingeschöpf beeinflussen und ihm so helfen konnte. Ich glaube, dass das, wozu ich plötzlich Zugang bekommen habe und zwar genau dann, als ich es dringend brauchte, bereits seit der Wandlung in mir war. Ich bin nur viel schwerer von Begriff als meine Wölfin. Aus meinem Blickwinkel ist das nur zu verständlich. Aber genau diese Kraft, zu der ich Zugang bekommen habe, hat mir erlaubt, Selenes Kontrolle über den Felsengeist zu brechen. Und als ich in ihrer Machtsphäre war und die geflügelten Teufel an mir hingen, da … da hat mein Blut sie alle getötet.« Mein Blick zuckte zu Ray und Naomi hinüber, die mich beide beobachteten. Ich ging ein paar Schritte tiefer in den arg zerstörten Wald hinein. »Wenn das, was wir durch den Computer-Link erfahren haben, die Wahrheit ist, zeigen sich gerade meine Kräfte, und sie sind … bemerkenswert. Ich bin mächtig genug, um mit Selene allein fertigzuwerden. Was ich an Kraft und Stärke in mir trage, muss und wird genügen, um Rourke zu retten.«
»Jessica …«
Ich fiel ihm ins Wort. Er durfte mir nicht verbieten, Rourke zu suchen. Täte er das, wäre ich aus dem Rudel ausgeschlossen, noch bevor ich eine Chance hatte, richtig anzukommen. »Dad«, flehte ich, »bitte, es gibt keinen anderen Weg. Ich kann ihn nicht zurücklassen; ich kann auch nicht von ihm ablassen. Mit ihm bin ich auf eine Weise verbunden, die ich nicht einmal beschreiben kann. Es ist mir unmöglich, dieses Band zwischen uns zu durchtrennen. Wenn er stirbt … ich glaube, dann bin ich zu nichts mehr zu gebrauchen.«
Lange kam keine Antwort, keinerlei Reaktion.
»Okay.« Er klang resigniert. »Aber du darfst deine Suche nur unter einer Bedingung fortsetzen. Diese Bedingung ist nicht verhandelbar.«
»In Ordnung«, sagte ich. Eine Welle aus Erleichterung trug mich davon. »Ich tue alles, was du willst.«
»Tyler und Danny haben sich dir als ihrem Alpha zu unterwerfen.«
»Wie bitte?!« Ich nahm das Telefon vom Ohr und starrte es entgeistert an. Als habe es plötzlich ein Fell und Reißzähne. In Zeitlupe führte ich es wieder ans Ohr. »Wahrscheinlich habe ich das akustisch nicht ganz mitbekommen. Ich bin kein Alpha. Darüber waren wir uns doch schon einig. Ich habe nicht einmal Neigungen in diese Richtung. Was willst du von mir? Ich kapier’s nicht. Das kann doch überhaupt nicht funktionieren. Nein, mit Sicherheit nicht.« Nackte Angst schnürte mir die Kehle zu, während meine Wölfin unruhig hin und her stromerte und dabei knurrte. Violett glitzerte es in ihren Augen.
»Vorübergehend, Jess: Du wirst nur vorübergehend die Alpha-Position einnehmen«, sagte mein Vater, die
Weitere Kostenlose Bücher