Halbmondnacht
hatte recht. Mit ihm mein Blut zu mischen war ganz anders als mit Danny. Dannys Band zu mir hatte von meiner Seite etwas Besitzergreifendes gehabt und diese Note auch behalten.
Mit Tyler verbunden zu sein fühlte sich vertraut an. Wie zu Hause zu sein.
»Jess«, meinte Tyler da, »ich kann über dein Blut auch Dads Gefühle mitempfinden. Sicher geht es ihm gerade genauso. Ganz sicher sogar.«
Über mein Blut waren wir nun alle drei miteinander verbunden.
»Es ist alles so lebendig«, stellte ich mit leiser Stimme fest. Ich war ganz ergriffen. Heiß wie Sommerhitze flirrte Tylers Blut in meinen Adern, trug einen Teil von ihm in mich hinein, ebenso wie umgekehrt ich nun über mein Blut in ihm war.
Im nächsten Augenblick, es war vielleicht eine Minute vergangen, riss uns ein Energieimpuls auseinander und wir taumelten voneinander fort.
Wieder rang ich vornübergebeugt nach Atem und musste mich auf den Oberschenkeln abstützen. Tyler war nur ein paar Schritte entfernt; seine Augen waren wolfsgelb. »Die Alpha-Bindung an Dad ist gelöst«, erklärte er. »Aber über dein Blut bekomme ich immer noch mit, was er fühlt.«
Ich nickte. »Als Dad und ich den Blutschwur geleistet haben, haben wir uns auch auf einer anderen Ebene der Verbundenheit zueinander wiedergefunden. Über das Blutband zu ihm kann ich seine Gefühle spüren so wie deine jetzt. Ich spüre auch Danny, aber viel schwächer als Dad und dich.« Ich blickte zu Danny hinüber und versuchte ihn mit meinen Gedanken zu erreichen. Danny, kannst du mich hören?
Keine Antwort. Also versuchte ich es bei meinem Bruder. Was ist passiert?
Ich bin nicht sicher. Aber ich fühle mich stärker, genau wie Danny gesagt hat. Alles ist irgendwie … verstärkt worden. Schwer zu beschreiben: größer, höher, weiter eben. Ich war unglaublich erleichtert, weil die Gedankenverbindung zwischen uns immer noch Bestand hatte. Ich bin froh, dass ich immer noch eine direkte Verbindung zu Dads Gefühlen habe, auch wenn sich die Qualität dieser Bindung sehr geändert hat. Wenn wir wieder zu Hause sind, kümmern wir uns um die Wiederherstellung der Alpha-Bindung und um all das, was daran hängt. Aber jetzt können Danny und ich dich beschützen. Das fühlt sich gut an, Jess. Es war richtig; zu bedauern gibt es daher n ichts. Er wandte sich an Danny und grinste breit. »Na, wie sieht’s aus? Willst du jetzt mit mir um die Rangfolge kämpfen?«, fragte er. Er hob die Fäuste zur klassischen Boxerpose.
»Nein, danke«, erwiderte Danny. Er tat, als bedauere er das außerordentlich. »Anscheinend war meine Dominanzposition dir gegenüber nur von kurzer Dauer. Aber egal, so lange, wie es angehalten hat, war es ein geiles Gefühl. Vielleicht machen wir’s so: Wir kehren ins Habitat zurück, und du hängst dich wieder an deinen Daddy, während ich noch ein bisschen bei Jessica bleibe. Das würde mir richtig gut in den Kram passen.«
Ich ging und holte meinen Rucksack. Wie ich sah, stand Naomi bereits am Waldrand und wartete. Wir hatten unsere Suche ja auch lange genug unterbrochen. »Siehst du noch geflügelte Teufel da draußen?«, fragte ich sie. Möglicherweise schickte die Unterwelt ein Ersatzkontingent an die Grenze von Selenes Einflussbereich.
Naomi wandte sich um und bedachte mich mit einem nachdenklichen Blick. »Non« , antwortete sie, »ich glaube, sie sind fort.«
Ich hievte mir den Rucksack auf den Rücken und drehte mich zu Ray um, der die ganze Zeit über auf der Kühlbox gesessen und keinen Mucks von sich gegeben hatte. Wer konnte schon wissen, was ihm so alles durch den Kopf ging? Ich jedenfalls war an seinen sicherlich tiefschürfenden Gedanken herzlich wenig interessiert. Ich hatte nicht einmal mehr genug Energie, um die Fragen zu beantworten, die er mir gewiss gern gestellt hätte. Nicht genug Energie: Das war die Ausrede des Jahres. Um Energie ging es hier nicht. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich auf seine Fragen überhaupt keine Antworten hatte. Null. Nada.
Er stand auf. »Also, Hannon, was für nette kleine Überraschungen erwarten uns denn noch da auf dem Berg?«
»Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, Ray. Aber keine Sorge: Es dauert nicht mehr lange, und wir finden es heraus.«
KAPITEL FÜNFZEHN
B eim Abstieg hinunter in die Schlucht blieb es überraschend ruhig. Die geflügelten Teufel ließen sich tatsächlich nicht mehr blicken. Es gab offenkundig keinen einzigen mehr: In einem Anfall von Genialität hatte Danny mein Blut an dem ausprobiert,
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