Hallo, Fräulein!: Winterzauber (German Edition)
ratsam, bis spätestens acht Uhr alle magenfüllenden Leckerbissen verdrückt zu haben, denn nach den detaillierten und unterhaltenden Geschichten über Viren, Bazillen, Kokken und all die anderen appetitanregenden Krankheitserreger verspüre ich verständlicherweise keinen Heißhunger mehr. Nun ... auf der anderen Seite müsste ich ohnedies ein paar Kilo abspecken.)
Oh ... ich sollte auch der Reinigungsfrau der Gästetoiletten umgehend Bescheid geben, denn besagter Hypochonder hat auch kleptomanische Eigenschaften aufzuweisen und streift pro Toilettenbesuch (sie visiert das Stille Örtchen zwei- bis dreimal pro Morgen an) eine Rolle Toilettenpapier ein (je nachdem, welche Handtasche sie gerade mitführt). Tja, das kann man schwer glauben, aber so ist das.
Um fünf Minuten vor acht ist es so weit. Ihr klappriges Gestell rückt unaufhaltsam heran. Trab, trab, trab ...
»Guten Morgen, Fräulein Amelie. Wie geht es Ihnen?«
(Diese Frage ist einer ihrer heimtückischsten Tricks, denn im Allgemeinen erwidert man darauf: »Mir geht’s sehr gut, vielen Dank der Nachfrage und wie geht’s IHNEN!« Diese simple und höfliche Floskel ist der Prolog zum Fehler aller Fehler, denn danach treten die ganzen hypochonderen Fantasien erst richtig und mit absoluter Zuverlässigkeit zutage.)
»O ... guten Morgen, Frau Grinsel! Auch wieder im Lande? Schön Sie zu sehen!«, bemerke ich ausnehmend galant. »Mir geht’s ausgezeichnet! Vielen dank der Nachfrage.«
... Und an dieser komprimierten Stelle sollte man nun rasch das Weite suchen oder, falls die erste Version nicht in Reichweite des gerade Möglichen ist, man schwenkt geschickt auf ein anderes und etwas ungefährlicheres Thema um ...
»Sie sehen außergewöhnlich gut aus! Das milde Klima scheint Ihnen wirklich zu bekommen«, stelle ich freundlich fest. »Wieso sind Sie denn dieses Jahr schon so früh in unsere verschneite Heimat zurückgekehrt?«
»Ach, was soll ich Ihnen sagen! 35 Die Ärzte da unten können ja eine schwerwiegende Lungenentzündung, die für viele Menschen in meinem Alter im schlimmsten Fall nicht überlebt werden kann«, erklärt sie mir bedeutungsvoll und dabei seufzt sie tief und fest, um mir das Format ihrer schlimmsten Ängste noch mitreißender zu verdeutlichen, »nicht von einem herkömmlichen Heuschnupfen unterscheiden. Da lobe ich mir doch unser Gesundheitssystem.«
»Was möchten Sie denn heute frühstücken, Frau Grinsel?«, unterbreche ich sie hier brüsk in ihrem Redeschwall.
»Ach ... was soll ich nur nehmen, Fräulein Amelie? Sie müssen wissen, dass ich am Vormittag noch zwei Arzttermine habe und der eine möchte mir Blut abnehmen, also sollte ich auf jeden Fall nüchtern bleiben«, erläutert sie mir Unheil bringend. »Ich habe zudem auch die ganze Nacht so schrecklichen Durchfall gehabt, dass ich es einmal beinahe nicht mehr zur Toilette geschafft hätte«, versucht sie nun die Einleitung zu ihrem absoluten Lieblingsthema aufzunehmen.
»Interessant! Nun, dann wird Ihnen wohl ein grüner Tee und ein Stück Zwieback nicht schaden, oder?«
»Nein, nein ... bloß keinen Zwieback«, stöhnt sie erschrocken hervor und wirft mir dabei einen beleidigten Blick zu. »Bringen Sie mir nur eine Scheibe ganz hell getoasteten Toast und schneiden sie die Ränder gleich ab, die verträgt mein Magen nämlich nicht!«
»Jawohl! Und ... möchten Sie eventuell auch ein Stück Butter dazu?«
»Um Gottes willen, Fräulein Amelie! Allein bei dem Gedanken daran, muss ich ja beinahe schon wieder auf die Toilette laufen.«
(Oh, heute führt sie eine auffallend große Tasche mit. Das heißt im Klartext: Das Toilettenpapier ist ihr in den beschissenen Nachtstunden ausgegangen und nun braucht sie Nachschub.)
»Entschuldigung, das wollte ich selbstverständlich nicht«, entgegne ich mitfühlend.
»Haben Sie eventuell ein cholesterinreduziertes Becel in der Küche? Ich glaube, ein solches würde mir nicht so dermaßen schaden.«
Um Viertel nach neun bin ich fix und foxi! (Grinselchen ist gottlob gerade zu ihrem ersten Arzttermin aufgebrochen! Wenn ich daran denke, dass das heute erst der erste von etwa zweihundertsechzig Tagen war, dann könnte ich heulen ... und zwar aus purem Selbstmitleid und nicht aus Schmerz – nun ja, seelischen vielleicht, aber nicht körperlichen.)
Mit Francesco führe ich mittlerweile eine ziemlich offene Telefonhotline. Wir sind nach der eingangs auffällig gesitteten Beschnupperungsphase nun zu äußerst intensiven und
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