Halloween
Mal gehört, er hat sich angewöhnt, Charitys fidele Verkaufsmasche zu ignorieren.)
Nein, da ist das, worauf er eigentlich gewartet hat, der blaue Bildschirm der örtlichen Vorhersage mit den Mondphasen – Local on the 8’s, zuverlässig wie der nächste Atemzug, verleiht seinem Tag den dringend benötigten Zusammenhang. Nach demAufwachen sieht er es sich nochmal an, der Sender wartet treu im Tuner, während der Fernseher aus ist.
Wolkig und kühl, tagsüber eventuell leichter Regen, dann Regenschauer bis in die frühen Morgenstunden. Anders. Woran er sich von letztem Jahr noch erinnern kann, ist der Wind und wie sich das gelbe Absperrband bauschte, wie die Blätter in die Dunkelheit hinter den tragbaren Scheinwerfern wirbelten. Die Straße war trocken, die Haftung bei vernünftigem Tempo groß genug.
(Jetzt geht’s los, sagt Toe.)
Wir kennen den Ablauf. Denn es zieht Brooks zu den Dingen, die falsch gelaufen sind, und er denkt, wenn er all das versteht, kann er sein kaputtes Leben wieder in Ordnung bringen – der Unfall und Tim und die Belobigung und dann die Behauptungen in der Zeitung und die heimliche Degradierung, wieder Nachtschicht und Melissas Weggehen und die Träume, die seit dem Hochsommer nicht mehr aufgehört haben. Wie einen Zombie zieht es ihn zu der Tür in der Diele, die wacklige Kellertreppe runter, es zieht ihn zu dem provisorischen Schreibtisch unter der flackernden Neonröhre, zu dem schwarzen Aktenschrank, den er bei der Versteigerung auf dem Revier erstanden hat, zu der mit einem Gummiband umschlungenen Aktenmappe, die dicker ist als all die anderen. Noch immer hält er seinen Teller in der Hand, aber die Hunde haben Angst vor der Treppe, deshalb ist er allein. Hier unten ist es, als wäre Nacht, es gibt keine Fenster. (Er und Kyles Mom könnten einen Verbindungstunnel anlegen, könnten sich unter den Hügeln und Straßen und faseroptischen Kabeln durchgraben.)
Er weiß, dass es spät ist. Er weiß, wenn er das Gummiband abstreift und den Bericht durchblättert, wird er stundenlang hier sitzen (er muss früh wach werden und Gram besuchen), aber dieses Wissen genügt nicht. Es ist eine Sucht – wir sind eine Sucht –, und ausgerechnet heute kann er nichts dagegen tun. Und überhaupt, es ist nicht so, dass er schlafen könnte.
Er schlägt die Aktenmappe auf, und da ist der Inhalt, aufgegliedert in ein zweckmäßiges Alphabet aus Abschnitten und Unterabschnitten. Beteiligte Personen. Befragungen/Aussagen. Schematische Darstellungen des Unfallorts. Technische Überprüfung. Er kennt seine eigenen Worte, aber es verschafft ihm Genugtuung, sie nochmal zu lesen. Da sind die Formeln, die er richtig aufgestellt hat, Geschwindigkeit und Energie und Entfernung, die Erhaltung der Schwungkraft, die Diagramme frei beweglicher Körper, das Schaubild, das die Lage der Beweisstücke zeigt, gesäubert von seinen hingekritzelten Arbeitsnotizen. Er hatte die C D-Hülle vergessen, die bei dem Aufprall wie eine Kanonenkugel weggeschleudert wurde. Da der Eiskratzer, die leere Dunkin’-Donuts-Tasse. Der Inhalt des Aschenbechers. Eine ganze Seite über die Kontrolle der Fahrzeugleuchten –
Foto Ja/Nein.
Er hat sein Bud ausgetrunken. Draußen ist die weiße Sonne aufgegangen, und in Avon herrscht reges Treiben, alle haben es eilig, aber hier unten gibt es keine Zeit, und Brooks sinkt immer tiefer, zum Mittelpunkt der Erde. Neben ihm werden die Eier kalt. Während die Seiten vorbeirattern, gerinnt das Fett zu weißen Klümpchen, und er schiebt den Teller mit dem Ellbogen weg. Anhang I befasst sich mit dem Straßenprofil (rissig, von der örtlichen Verkehrsbehörde instand gehalten, Geschwindigkeitsbegrenzung 55 km /h, zweispurig, durchgezogene Mittellinie, Kurve, Scheitelpunkt, Asphaltbeton). Anhang II führt die Wetterbedingungen auf (bewölkt, trocken, mäßiger bis starker Wind, dunkel, keine künstliche Beleuchtung). Verformung des Unfallwagens, Fahrzeugdurchsuchung, Freigabe der Krankenblätter. Man könnte meinen, wir fänden das langweilig, weil wir es so gut kennen (und an so viele Orte müssen), aber zu guter Letzt haben wir uns um Brooks versammelt, sehen uns über seine Schulter hinweg Bilder von uns an, lachen und machen rotzige Bemerkungen, als wäre es ein Familienalbum. Nicht weil es faszinierendwäre (so trocken erzählt, ist es echt nicht besonders interessant). Nein – weil es dabei um uns geht.
An jenem Tag hat Toe ihn als Ersten abgeholt, also muss Tim jetzt den Oxbow Drive
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