Halloween
gegeben, ein Projekt im Hygieneunterricht der Mittelschule. Sie braucht sich nicht ins Gedächtnis zu rufen, wie oft sie Kyle hergefahren hat, wenn er etwas nachschlagen musste; sie hat sich damit abgefunden, dass er ihr überall auflauern kann. Besser hier, wo sie sich ablenken kann, als zu Hause.
Ihr Problem liegt darin, die Zeit auszufüllen – das genaue Gegenteil ihres sonstigen Lebens. Vorher (ist das nicht eine nette Art, es auszudrücken?) war sie hin und her gerissen zwischen College und Haushalt, die Fahrerei eine lästige Angelegenheit. An drei Abenden in der Woche gab es Essen aus dem Schnellrestaurant, und sie konnte nicht fernsehen, oder sie hätte den Lesestoffnie bewältigt. Jetzt stückelt sie ihren Zeitplan zusammen, froh, diese Stunden in der Bücherei zu haben, eine echte Freiwillige.
Morgens lesen die älteren Männer aus The Mews und Sunrise Village die Zeitungen. An manchen Tagen kommt der Bus zu früh, und dann warten sie draußen, zusammengedrängt wie die illegalen Lotteriespieler mit ihren Hüten und Polyesterhosen; sie hat mit ihnen schon unter dem Türvorsprung gestanden, eine Ehrenseniorin. «Sie sollten einen eigenen Schlüssel haben», sagen sie dann, und sie stimmt ihnen zu. Manchmal kommt es ihr vor, als wäre sie öfter hier als das Stammpersonal.
In der Bücherei herrscht eine stille Aufmerksamkeit, eine Klarheit, die Rundbogenfenster lassen die Sonne herein, und der Teppichboden und die Deckenfliesen dämpfen auch das leiseste Geräusch. Alle Flächen sind in einem nüchternen Nougatbraun gehalten, die Bücher die einzigen Farbkleckse. Die Regale stehen dicht nebeneinander, voll wie Honigwaben. Sie fühlt sich geschützt durch so viele Seiten, wohlbehalten in den Gedanken anderer Leute. Die Genauigkeit und stetige Wiederkehr der Arbeit beruhigt sie, ist eine Art Therapie. Alles, was sie tut, führt zu mehr Ordnung, hilft jemand anderem, das zu finden, was er sucht. An den ruhigsten Tagen redet sie sich ein, ihre Liebe zu diesem Ort sei unkompliziert und zart und nicht notwendig und verzweifelt, sie selbst kein Flüchtling, der in Deckung geht. So oder so, sie wird es überstehen.
Sie stellt sich auf einen Metallschemel, der wie ein umgedrehter Eimer aussieht, um eine Studie über Brustkrebs ins oberste Regal zu schieben. Das ist ihr, Gott sei Dank, erspart geblieben und die darunter aufgereihten Krankheiten ebenfalls. Sie haben keine Bücher über Kyle, nur ein Ringbuch zu Hause vom Rehazentrum in Denver, und das befasst sich nur mit dem Äußerlichen, wie man die Kleider wechselt, was man beim Duschen beachten muss. Sie steigt vom Schemel und nimmt das nächste Buch, überprüft die Nummer. Die Cellophanhüllen um diefrisch eingetroffenen Exemplare weiter vorne sind glatt und durchsichtig; hier hinten sind sie verschmiert und rissig, ziehen Staub an. Manche Buchrücken sind verbogen und verbeult, manche Seiten wieder eingeklebt. Alles Medizinische ist völlig veraltet, abgenutzt. Die Ungeliebten werden letztlich für den Ramschverkauf aussortiert; sie hat Alice geholfen, mit einem Karren durchs Magazin zu gehen und alles herauszusuchen, was in den letzten fünf Jahren nicht mehr ausgeliehen wurde. Sie empfindet das als Verschwendung, und manchmal nimmt sie eins mit nach Hause, einfach um es zu retten, und bringt es mit schlechtem Gewissen ungelesen zurück.
Durch das Dewey-Dezimalsystem bis 92, Biographien, ganz einfach, getrennt vom Rest und alphabetisch geordnet. Billie Holiday, Vivian Leigh, Golda Meir. Das erlebnisreiche, heroische Leben dieser Frauen lenkt sie ab von ihrem eigenen, fasziniert sie, wie die Plakate im Treppenhaus es versprechen, ein Piratenschiff voll kleiner Kinder – Lesen ist ein Abenteuer. Sie fühlt sich hier grenzenlos, umgeben von der Welt in konzentrierter Form. Allein die Bücher in der Hand zu halten genügt schon.
(Und während sie wie befreit ist, denkt sie nicht an uns, doch wir sind immer noch da, wie Bücher, die jemand hat zurücklegen lassen. Wir stehen bei der Belletristik und beobachten sie, spähen durch die Lücken in den Regalen und spielen wie früher Verstecken, Toe flirtet mit Danielle, dann biegt Danielle um die Ecke und bleibt plötzlich stehen, denn direkt vor ihr, gut dreißig Zentimeter größer, steht Kyle.
Toe spielt den Helden; er packt Danielle, läuft in die andere Richtung, mitten durch eine ältere Frau, die von ihrem Buch aufblickt und dann weiterliest.
Es ist derselbe Kyle, mit seinem T-Shirt , seinem Geldbeutel
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