Halloween
ist es eiskalt, obwohl die Heizung voll aufgedreht ist. «Wetten, dass wir trotzdem in die Schule müssen?»
Das bringt ihn zum Schweigen, und Tim schaut ihn an. Kyle hält sich mit beiden Händen an dem am Armaturenbrett angeschraubten Griff fest, als würde er damit lenken. Sie kommen zur 44, das rote Licht der Ampel über die Windschutzscheibe verschmiert. Tim hält an, und der Motor läuft im Leerlauf, nur seine Hände schauen aus dem Schatten hervor, abgeschnitten an den Handgelenken, körperlose Mörder. Das Staples ist offen, auch das McDonald’s gegenüber, wo sie sich was zum Abendessen holen werden. Er hat das Geld in der Tasche.
«Es ist Halloween», sagt Kyle aus dem Dunkeln, und Tim stellt das Radio leiser.
«Was?», fragt Tim, kann aber Kyles Gesicht nicht sehen, bloß das Funkeln seiner Brillengläser. (Welcher Kyle ist das? Den echten sehen wir nirgends.)
«Es ist Halloween», sagt Kyle unschuldig.
Die Ampel wird grün und Tim fährt los. «Und?»
«Mir gefällt Halloween.»
«Was gefällt dir daran?»
«Dass ich Süßigkeiten kriege.»
«Erinnerst du dich an letztes Jahr Halloween?»
«Ja. Ich hab jede Menge Süßigkeiten gekriegt. Ich war ein Werworf.»
«Wolf», sagt Tim erleichtert.
«Wolf», sagt Kyle.
Kyles Dad verspätet sich und ist müde von der Fahrt. Er kommt durch die Garage herein und murmelt irgendetwas über den Verkehr, Bauarbeiten in West Hartford. Die Einzelheiten sind unwichtig, es ist bloß ein Warnschuss, um ihr seine Stimmung zu signalisieren, der Beweis, dass es nichts mit ihr zu tun hat. Sie küssen sich, ein Clinch mitten in der Küche, förmlich wie ein Menuett. Kyles Mom nimmt ihm seine Aktentasche und seinen Mantel ab, als könnte sie ihn von der Last des Arbeitstages befreien. Sie befürchtet, er könnte es sich anders überlegt haben und das als Ausrede benutzen – aber vielleicht hofft sie auch, dass er das Ganze absagt. Sie trägt immer noch dieselben Sachen wie am Morgen.
«Für wann hast du reserviert?», fragt er und blättert die Rechnungen durch.
«Halb acht. Du hast noch Zeit.»
«Gut.» Er hält beide Hände vor die Augen, reibt sich übers Gesicht und tappt den Flur entlang wie ein alter Mann. Sie bringt seine Aktentasche in sein dunkles Arbeitszimmer und legt sie flach auf den makellos aufgeräumten Schreibtisch, damit er sie öffnen kann, wenn sie nach Hause kommen – genau das, was sie nicht will. Heute Abend muss er alles andere vergessen und sich nur auf sie konzentrieren.
«Ich wusste gar nicht, dass wir Süßigkeiten austeilen», ruft er aus dem vorderen Teil des Hauses.
«Warum nicht?», brüllt sie, aber er steigt bereits die Treppe hinauf.
Sie stellt sich neben seinen Computer, dessen Bildschirmschoner durchs Weltall fliegt, und horcht. Anscheinend sind sieimmer in verschiedenen Zimmern, wenn sie miteinander reden, einer von beiden geht immer davon. Was werden sie sich beim Abendessen sagen, wo es kein Entrinnen gibt?
Die Klingel schreckt sie auf – sie hat schon wieder den Rest der Welt vergessen (die große Gefahr, wenn man hier lebt, verkrochen in unseren gemütlichen kleinen Höhlen). «Ich gehe schon», ruft sie, nimmt die Schüssel vom Tisch und legt ein Betty-Crocker-Lächeln auf.
Vor der Tür steht ein Polizist – sie sieht die blaue Uniform und begreift im Nu, dass Kyle etwas zugestoßen sein muss, ein weiterer Unfall –, doch der Polizist ist bloß ein kleiner Junge, begleitet von einer Hexe und einer Mumie. «Süßes oder Saures!», brüllen sie.
Sie fängt sich wieder und verbirgt ihre Verwirrung hinter einem Lächeln. «Nehmt euch zwei», sagt sie, als alle in der Schüssel kramen und die Mumie ihre Maske anhebt, damit sie etwas sehen kann. Sie erkennt keins der Kinder, aber wie sollte sie auch, sie sind viel jünger.
«Danke», sagen sie, «fröhliches Halloween!», und schon sind sie über die Platten verschwunden, nur noch Schatten auf der Straße.
Sie schließt die Tür und stellt die Schüssel auf den Tisch, sieht ihr Gesicht im Spiegel und sammelt sich, bevor sie nach oben geht. Gerade heute Abend will sie nicht nachdenklich wirken.
Im Einkaufszentrum ist alles andere über Nacht geschlossen, die Lichter aus, die blinkenden Alarmanlagen eingeschaltet. Das Stop’n’Shop liegt ganz am Ende, von der Straße zurückgesetzt, und es wirkt abgeschieden, eine Insel, auf allen Seiten von Dunkelheit umgeben, eine richtige Festung gegen eine Armee von Zombies. Und da kommen sie schon, einer nach dem
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