Halo - Tochter der Freiheit
den Unterkiefer sinken. Halo blickte ihm in den Rachen – und musste sich zwingen, nicht voller Entsetzen einen Satz rückwärts zu machen.
Trotz des schwachen Lampenlichts konnte sie sehen, dass seine Mundhöhle mit dunkelrotem Blut gefüllt war.
»Hast du dir auf die Zunge gebissen?«, fragte sie und brachte mühsam ihre Stimme unter Kontrolle.
»Nein«, krächzte er. Er blinzelte heftig, als schmerzten auch seine Augen. »Aber ich weiß, dass ich aus dem Hals blute. Seit Mittag muss ich mir ständig das Blut vom Mund wischen …«
»Das habe ich noch nie gesehen und auch noch nie davon gehört«, sagte sie langsam und ruhig. »Ich werde gleich mal zu Hippias gehen und ihn fragen. Bleib still liegen und iss etwas, auch wenn es wahrscheinlich sehr schwierig und schmerzhaft sein wird. Ich komme wieder, sobald ich erfahren habe, was man dagegen tun kann.«
Er lächelte ihr dankbar zu, und sie lief aus der Kammer.
»Na?«, fragte Arimaspou, der im Hof saß und einen Riss in seinem Köcher mit einem Lederband flickte.
»Er ist sehr krank«, antwortete Halo, »aber ich weiß nicht, was er hat. Ich gehe zu Hippias und frage ihn, was das sein könnte.«
Arimaspou knurrte zustimmend. »Hoffen wir, dass er es bald hinter sich hat«, sagte der Hauptmann.
Er hatte es bald hinter sich. Nach wenigen Tagen starb Gyges.
Er hatte geblutet, gefiebert, gehustet und sich erbrochen, bis rein gar nichts mehr in ihm drin war. Sein ganzer Körper war von Krämpfen und Anfällen geschüttelt worden, die Haut hatte sich gerötet, und schließlich hatten sich große Geschwüre und Eiterpusteln gebildet, sodass Gyges nicht einmal mehr das leichteste Betttuch hatte ertragen können. Am fünften Tag hatte er keinen Schlaf mehr gefunden, hatte nicht mehr still liegen können und war plötzlich unglaublich durstig gewesen. Er war sozusagen innerlich verbrannt, denn die Unmengen Wasser, die sie ihm einflößten, hatten den Durst auch nicht stillen können. Schließlich war Gyges, wahnsinnig vor Schmerzen und Fieber, mitten in der Nacht von seinem Krankenlager hochgefahren, auf die Straße und zum Kanal getaumelt, und hatte sich in seinem verzweifelten Durst ins Wasser gestürzt und war ertrunken.
Und in dieser einen Woche wurde Athen zu einer anderen Stadt.
Halo war zu Hippias gelaufen, als sie Gyges zum ersten Mal auf seinem Krankenbett untersucht hatte, sie wollte den Arzt um Rat fragen. In Hippias’ Haus warteten an diesem Tag ungewöhnlich viele Patienten.
»Halo!«, rief der Arzt, der blass und überarbeitet wirkte. »Wie gut, dass du vorbeischaust. Komm und hilf mir.« Er bot ihr keinen Kuchen an.
»Ich komme nur, weil ich deinen Rat brauche«, sagte sie. »Es ist schon spät, und Aspasia wird sich Sorgen machen, wenn ich nicht bald zu Hause bin.«
»Bezieht sich deine Frage auf starke Kopfschmerzen und Blutungen in der Mundhöhle?«
»Richtig«, sagte sie überrascht.
»Sag mir – es ist hoffentlich nicht dein Kopf und nicht dein Mund?«, fragte er, wandte sich zu ihr um und schaute sie voller Sorge an.
»Nein.«
»Dank sei den Göttern«, seufzte er. »Da bin ich froh. Obwohl es vermutlich das Einzige ist, worüber ich heute froh sein darf. Wer ist es?«
»Gyges der Skythe.« Sie wusste, Hippias unterstützte es nicht, dass sie die Skythen behandelte; er war überzeugt davon, dass ihr die Erfahrung und die Kenntnisse fehlten, um so eine Verantwortung zu tragen. Andererseits war ihm klar, dass sich die Skythen von keinem anderen Arzt behandeln lassen würden.
»Also auch die Skythen«, murmelte er leise.
»Nur einer von ihnen«, sagte sie.
»Halo, mein Kind«, sagte Hippias und schaute sie mit seinen dunklen Augen ernst an. »Vorgestern kam ein einziger Patient zu mir, der aber nur über schwache Kopfschmerzen und faul riechende Blutungen im Rachen klagte. Gestern kamen sechs. Heute zwölf. Wie viele kommen morgen?«
»Können wir denn gar nichts für sie tun?«, rief sie entsetzt.
Er schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich wollte ohnehin heute Abend sämtliche Abhandlungen durchlesen, die es dazu gibt – vielleicht finde ich darin eine Behandlungsmethode. Aber wie du siehst …«
Inzwischen hatte sich der Hof weiter mit Leuten gefüllt. Die meisten waren gar nicht selbst krank, sondern wollten Hippias zu kranken Verwandten rufen. Aber er konnte nicht überall zugleich sein.
»Du hast Glück, dass du mich überhaupt hier angetroffen hast«, sagte er. »Bitte geh in meine Bibliothek und sieh die
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