Halo - Tochter der Freiheit
…«
»Sobald du dich wieder kräftig genug fühlst«, sagte Arko.
»Ich fühle mich kräftig genug! Ich fühle mich … Wie lange war ich eigentlich krank?«
»Zwei Wochen.«
»Hm. Und wie geht es Perikles und Aspasia?«
»Perikles wird bald abreisen«, erzählte Arko. »Er will mit der Flotte an der peloponnesischen Küste entlangfahren – Epidaruros, Troizen, Hermione, Prasiai. Sobald die Spartaner abgezogen sind, werden sie segeln. Das ist wohl das Beste für ihn.«
Als Halo wieder zu Kräften gekommen war, begleitete Arko sie nach draußen – sie wollten Hippias besuchen. Sie kamen durch eine Stadt, die ihr so fremd vorkam wie ihre schwachen Beine. Der Himmel war noch immer blau, die Sonne strahlte noch immer hell, die Luft war noch immer rein … und doch war alles anders. In den Straßen der Stadt, die normalerweise von geschäftigem Lärmen erfüllt waren, herrschte gespenstische Stille; sie waren fast menschenleer. Die wenigen Leute, denen sie begegneten, wirkten bedrückt und traurig. Durch die Fenster drangen weder das übliche Lachen noch das Geschwätz der Leute oder der Lärm der alltäglichen Arbeit, es waren nur Seufzer, gedämpfte Schritte, Wehklagen oder Schmerzensschreie zu hören. Dreimal mussten sie Trauerzüge an sich vorbeiziehen lassen, mit weinenden Frauen und Männern mit versteinerten Gesichtern.
Auf der Agora hatten sich ein paar kleine Gruppen versammelt. Ein Mann schrie, was Perikles denn eigentlich dagegen unternehme? Die Götter zürnten der Stadt! Athen sei verseucht! Man müsse endlich etwas tun!
Ein Teil der Landflüchtlinge war bereits wieder in die Heimat zurückgekehrt, nachdem sich die Spartaner zurückgezogen hatten. Die Reste ihrer primitiven Hütten hingen schmutzig und verloren an den Mauern der Tempel. Neben einer der Hütten saß ein kleines Mädchen verlassen und mit tränenüberströmtem Gesicht in der brütenden Sonnenhitze. Ein paar Hütten weiter lief ein Hund verwirrt und verloren hin und her und beschnüffelte die leere Bretterbude. Aber die meisten Hütten waren noch bewohnt. Die Landflüchtlinge hockten still im Schatten der Stadtmauer. Es schien, als fürchteten sie sich davor, auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu erregen – als ob die Pest sich sofort auf sie stürzen würde, sobald sie sich bewegten oder miteinander redeten. Die wütenden Stimmen von der Agora schallten herüber, aber die Flüchtlinge achteten nicht darauf.
Auf dem ganzen Weg durch die Stadt sah Halo nicht einen einzigen Menschen lächeln.
»Das ist furchtbar«, flüsterte sie Arko zu. »Es ist furchtbar.«
»Niemand weiß, was zu tun ist«, antwortete Arko. »Niemand weiß, wodurch die Krankheit ausgelöst wurde. Einer der Jungen am Markt hat allen erzählt, er hätte Spartaner beobachtet, wie sie die Wasserspeicher unten in Piräus vergifteten …«
»Stimmt das denn?«, fragte sie entsetzt.
»Das weiß niemand. Die Priester behaupten, Apollon sei beleidigt, weil die Pythia den Athenern gesagt habe, sie hätten das Stück Land am Fuß der Akropolis nicht besiedeln dürfen. Sie erinnern daran, wie damals in Theben die Pest ausgebrochen sei. Sie sei durch die Blutvergiftung des Ödipus ausgelöst worden, heißt es, als er seinen Vater ermordete und seine Mutter heiratete. Und die Priester erzählen auch davon, wie Apollon einst dem Heer Agamemnons vor Troja die Pest geschickt habe, weil Agamemnon seinem Priester zu wenig Achtung erwiesen habe …«
Halo erinnerte sich an die Sage, wonach die alles durchdringenden Silberpfeile des Apollon neun Tage und Nächte auf Agamemnons Krieger herabregneten und das Heer vernichteten. War ihr selbst genau das passiert? Hatte Apollon sie abgeschossen?
Das konnte sie nicht glauben. Schließlich war ihr Apollon sehr freundlich gesinnt gewesen: Er hatte ihr gesagt, wer ihre Eltern waren, und ihr die kleine Eule zurückgegeben. Und aus welchem Grund sollte er Athen so sehr zürnen, dass er der Stadt einen solchen Fluch schickte, wo sie doch bereits mitten im Krieg stand? Oder war das der Kern der Weissagung, die die Pythia Melesippos und Leonidas gemacht hatte – dass Apollon auf der spartanischen Seite stand?
Die scharfe, harte Pfeilspitze fiel ihr wieder ein, die sie aus Gyges’ Wade entfernt hatte. Sie dachte an Fleisch und Blut und die vier Körpersäfte, sie dachte an die Bücher des Hippokrates, die ihr Hippias zu lesen gegeben hatte. Sie dachte an Moskitostiche, die sich mit Eiter füllten, wenn man zu sehr daran herumkratzte,
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