Halo - Tochter der Freiheit
ihre Stirn so ausgesehen, als man ihr das Zeichen tätowiert hatte? Wahrscheinlich nicht, denn ihre Tätowierung war viel kleiner. Aber sie hatte auch nicht gewusst, dass eine frische Tätowierung so schlimm aussah – Arko war ziemlich tapfer gewesen und hatte keinen Laut von sich gegeben.
Der Tätowierer sprang von Arkos Rücken, holte eine kleine Flasche Wein herbei und goss den Inhalt über die Nadelstiche, um sie zu säubern. Dann bestrich er die ganze Fläche mit einem dunklen, duftenden Öl, legte einen sauberen Verband über die Wunden und verknotete die langen Leinenstreifen auf Arkos Brust miteinander. Halo sah fasziniert zu und fragte den Mann, welche Zutaten er dem Öl beigesetzt habe. Sie passte genau auf, wie er die Wunden verband, denn seine Methode war ganz anders als die der Spartaner. Dann versprach sie, die Wunden zu pflegen, bis sie vollständig verheilt wären.
»Hab noch nie einen Zentauren tätowiert«, sagte der Mann, während er geschickt die Binden verknotete. »War mir eine besondere Ehre. Wechsel den Verband, wenn du kannst. Wird nur in den ersten paar Tagen nötig sein. Über Narben brauchst du dir keine Sorgen zu machen, hahaha. Das kostet einen Obolus.«
Arko besaß nur einen einzigen Obolus. Seine letzte Münze. Nun hatten sie überhaupt kein Geld mehr.
»Macht nichts«, sagte Arko. »Athen, wir kommen!«
Beide bemerkten den blassen Jungen mit den großen Augen nicht, der auf der anderen Seite der Agora neben dem Brunnen an einem Baumstamm lehnte. Aber er hatte sie sehr wohl bemerkt, denn er hatte Ausschau nach ihnen gehalten. Und als der Tätowierer mit seiner Arbeit begann, stieß sich der Junge lässig von dem Stamm ab und schlenderte zur Straße hinüber, die nach Athen führte. Dort hatte er sein Pferd angebunden. Hinter Theben, an einem ungestörten Plätzchen, vielleicht irgendwo auf den Hängen des Kithairon-Gebirges, würde er wohl ein Wörtchen mit den beiden zu reden haben …
ΚΑΠΙΤΕΛ 19
Auf der Straße nach Athen kamen Arko und Halo mit fünf Brüdern ins Gespräch, die eine Maultierkarawane über das Gebirge führten. Die beiden schienen sich der Karawane anschließen zu wollen, und Mantiklas stieß einen wütenden Fluch aus. Er hatte sich in einem Baum versteckt und beobachtete sie, als sie unter ihm vorbeizogen.
Bald danach schlugen sie ihr Lager auf und legten sich schlafen, umringt von fünfunddreißig stinkenden, aber warmen Tierleibern.
Mantiklas zog den Umhang enger um die Schultern und grübelte finster vor sich hin, während er weiter ins Tal hinunterstieg. Der richtige Augenblick würde schon kommen, weiter unten, in den Feldern auf der anderen Seite des Gebirges.
Früh am nächsten Morgen tauchten Halo, Arko, die fünf Maultiertreiber und ihre fünfunddreißig Tiere aus dem Nebeldunst auf, der über den schneebedeckten Gipfeln hing. Als sie vom Kithairon-Gebirge herabkamen und die Ebene vor sich liegen sahen, bot sich ihnen ein unvergesslicher Anblick.
Halo stupste Arko an, und er blieb stehen. »Was ist das?«, fragte sie mit glänzenden Augen.
»Athen, glaube ich«, antwortete Arko.
Vor ihnen lag die große Attische Ebene. So weit sie blicken konnten, wuchsen überall Olivenbäume, und dazwischen ragten schmale tiefschwarze Zypressen in die Höhe. Nach Osten und Norden wurde die Ebene von hohen Gebirgen eingerahmt, während im Süden das Meer wie ein Silberband glänzte. Und genau in der Mitte der Ebene, doch noch weit in der Ferne, stand ein mächtiger Felsen, fast ein kleines Gebirge, der sich über einem Gewirr von Dächern und weißen Gebäuden erhob. Auf dem Gipfel dieses Felsblocks konnten sie rosig-weiße Säulenreihen ausmachen, die im hellen Sonnenschein schimmerten.
Halo lächelte glücklich.
»Athen«, sagte sie. »Arko, das ist meine Stadt. Wenn ich überhaupt eine Familie habe – eine menschliche, meine ich –, dann lebt sie dort. Aiella und Megakles … Aber, Arko, ich habe Angst …«
Er legte ihr den Arm um die Schultern.
»Es ist deine Stadt, und sie wird dich lieben«, sagte er. »Und selbst wenn das nicht der Fall wäre, heißt Athen doch jeden Besucher willkommen. Die Stadt ist ganz anders als Sparta, die Athener mögen alles. Und sie nörgeln nur herum, weil sie eben gerne nörgeln.«
»Woher willst denn ausgerechnet du das wissen?«, fragte Halo. »Wie viele Jahre hast du in Athen gelebt, du weiser Herr?«
»Zentauren wissen alles«, antwortete Arko gespielt hochnäsig. »Sollte sogar dir inzwischen klar
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