Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall
Hätte Kara Mustafa die Österreicher damals,
dachte er missgelaunt, vor Wien geschlagen und die Stadt eingenommen, dann wäre
er, Dalga, jetzt nicht in dieser misslichen Lage, denn dann würden diese
Europäer, die Deutschen, Franzosen, Engländer und was da noch so kreuchte und
fleuchte, seit mehr als vierhundert Jahren türkisch sprechen. Dies wäre weiß
der Himmel Zeit genug gewesen, dass selbst diese Hinterwäldler nun ein
einigermaßen anständiges Türkisch gelernt hätten. Stattdessen radebrechten sie
nach wie vor in ihrer scheußlichen, kantigen Sprache und starrten ihn empört
an, wenn er sie nicht verstand. Also musste Bülbül wieder her, der aufgeblasene
Lackaffe, der einen Onkel hatte, der einen fast noch leichter um den Verstand brachte
als der Neffe.
»Nein,
das ist ganz gewöhnliche internationale Küche, Pizza von Jack’N’Joe’s Pizza ,
dort drüben auf der anderen Straßenseite. Als Jet- Set-Kind habe ich nie kochen
gelernt und so ziehe ich nach Möglichkeit immer in die Nähe einer Pizzabude.
Döner geht natürlich auch immer.«
Sie
saßen nebeneinander auf Sedas schmalem Balkon, auf dem kaum Platz für drei
Stühle, einen wackligen Beistelltisch und eine verkümmerte Zwergpalme war.
»Hier,
Herr Schmalfuß, noch ein Riesenstück für den Helden, der unser Gefängnis
überlebt hat.«
»Aber
meine Socken haben das Gefängnis nicht überlebt.« Herbert Schmalfuß schüttelte
bekümmert den Kopf. »Denken Sie sich nur: Ich durfte in all den Tagen meine
Socken nicht wechseln und die waren doch blutverschmiert hier vorne.«
Er
wackelte mit den Zehen, die nunmehr in blütenweißen, neuen Strümpfen steckten.
»Nach
so langer Zeit kriegt man die Flecken nicht mehr raus.«
Seda
nahm einen Schluck von ihrem Wein und sah über die Brüstung. In der Straße brodelte
es, es war Freitagabend. Hier gab es einige Cafés und kleinere Lokale und
Menschen jeder Altersgruppe trieben unter den Laternen hierhin und dorthin. Nur
wenige Touristen fanden den Weg in Sedas Viertel, die meisten blieben in der
Nähe der Promenade und ihrer Parallelstraße, in der eine Bar an der anderen
war, doch Seda konnte vereinzelt deutsche und französische Laute ausmachen. Ein
Geruch drang ihr in die Nase, den sie Zeit ihres Lebens mit ihren Aufenthalten
in der Türkei in Verbindung gebracht hatte, ein Gemisch aus schwerem Parfum,
Meer und einer Luft, die eine eigene Konsistenz zu haben schien, eine aus
tausend Duftnoten gemixte Luft, die während des Tages wie festgebacken zwischen
den Häuser hing um abends langsam in den Nachthimmel zu diffundieren.
Herbert
Schmalfuß schnitt seine Pizza in kleine Stücke und aß gleichmäßig und mit nicht
nachlassendem Genuss. Das Messer schabte vorsichtig über den Teller,
sicherlich, dachte Seda, damit er keine Kratzer verursachte. Einen Moment saß
sie wie gelähmt vor Rührung, doch da klingelte es an der Tür.
»Das
ist Kadir! Oh, ich bin gespannt, was er zu erzählen hat!«
Aufgeregt
drängelte sich Seda an Schmalfuß‘ knochigen Knien vorbei und rannte durch ihr
winziges Wohnzimmer zur Haustür.
Obgleich
sein Gesicht blass vor Müdigkeit war und die Haut unter seinen Augen spannte,
wirkte Kadir wie elektrisiert, munter und unternehmenslustig, als hätte er nicht
einen mehrstündigen Vernehmungsmarathon mit etlichen Zeugen hinter sich.
Herbert
Schmalfuß war aufgestanden und die Männer schüttelten sich stumm die Hand.
Kadir war unendlich erleichtert gewesen, als er hörte wie schnell die
Entlassung von Schmalfuß vonstattengegangen war. Nachdem der Gerichtsmediziner bestätigt
hatte, dass der Ermordete weniger als vierundzwanzig Stunden tot war, und dass
es sich bei dem Draht, der unter dem Kehlkopf um den Hals gewickelt und fest
zugezogen worden war, wieder um das gleiche Material wie bei Bernadette
Fischbachs ‚Guillotine‘ handelte, hatte der deutsche Konsul leichtes Spiel
gehabt. Noch ein, zwei Anrufe von türkischen Beamten aus Istanbul, die Sedas
Vater kontaktiert hatte, entschieden die Sache. Die offizielle Lesart lautete,
dass es sich bei den beiden Todesfällen um Morde handelte, die von ein und
demselben Täter begangen worden waren. Somit schied Schmalfuß aus, denn er saß
zum Zeitpunkt des zweiten Mordes im Gefängnis.
»Los,
erzählen Sie! Alles, was wir noch nicht aus der Zeitung wissen und von mir aus
auch das noch mal!«
Kadir
quetschte seinen Klappstuhl neben die Brüstung, damit er den beiden anderen ins
Gesicht sehen konnte, und angelte sich ein
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