Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall
ihre
Schläfe. »Gab es in der Zwischenzeit irgendwelche Nachrichten für mich?«
»Nein,
Frau Doktor.«, antwortete Zekiye, die wusste, was ihre Chefin hören wollte.
»Nur Patientenanrufe und einmal die Mutter von Herrn Bülbül – da weiß ich aber
nie, ob es ein Patientenanruf ist oder privat. Sie meldet sich später noch
mal.«
Zekiye
schloss die Tür und Nevin atmete auf. Sie kramte in einer Schublade nach Aspirin
und schluckte die Tablette trocken hinunter. Noch so eine Patientin wie gerade
eben und der Tag wäre gelaufen. Dann würde sie die Praxis für heute schließen
und einen ausgedehnten Strandspaziergang machen. Bei ihren Kopfschmerzen
ohnehin nicht die schlechteste Idee.
Nevin
lehnte sich in ihrem Ledersessel zurück und schloss die Augen. Halsreißen hatte
die Patientin gehabt, aber nicht hier innen drin, Frau Doktor, mehr so
außen, genau hier, es zieht und zerrt von einer Seite zu anderen, als ob jemand
an meinem Kopf reißen würde, Frau Doktor. Nevin seufzte. Die wievielte
Patientin mit „Halsreißen“ war das gewesen? Seit den beiden Mordfällen, die in Hürriyet und im Fernsehen wieder und wieder en detail beschrieben wurden, häuften
sich in ihrer Praxis die Fälle von, wie Nevin es für sich nannte,
„Guillotinensyndrom“. Als sei das Tun des Halsabschneiders, wie die Presse den
Mörder getauft hatte, eine Art Epidemie, die jeden erfassen und niederstrecken
konnte. Ersten Symptomen, ersten Anzeichen eines sich ablösenden Halses musste
dringend von ärztlicher Seite Einhalt geboten werden! Und deswegen, lächelte
Nevin ironisch, ist meine Praxis zum Bersten voll. Bestimmt hatte Latife Bülbül
vorhin wegen ähnlicher Halsbeschwerden angerufen.
Der
Einzige, der nicht anrief, war Kadir. Seit Tagen schon nicht.
Seit
dem Strandspaziergang, der so unschön endete, hatte sie nur einmal kurz mit ihm
gesprochen, irgendwann war er an sein Handy gegangen, auf dem bestimmt schon
zehn unbeantwortete Anrufe von ihr registriert waren. Er war höflich gewesen,
aber Nevin hatte die mühsam zurückgehaltene Ungeduld und Anspannung gemerkt und
dennoch hatte sie ihn gefragt, entgegen der warnenden Stimme, die ihr ins Ohr
flüsterte, dass der Zeitpunkt ungünstig sei, einen müden, überarbeiteten Mann
um ein Uhr nachts um ein baldiges Treffen zu bitten, wann sie sich das nächste
Mal sehen könnten. Sie hatte ihm nämlich etwas wirklich Wichtiges mitzuteilen. –
Hör zu Nevin, ich möchte nichts lieber als dich so bald wie möglich
wiedersehen, aber ich fürchte wir müssen das etwas vertagen. Ich bin bei Dalga
eingespannt als wäre ich sein Leibeigener und mein Chef macht gleichfalls
Druck. Wenn dieser Schlamassel hinter uns liegt – wie auch immer es ausgeht –
dann nehme ich mir einen ganzen Tag frei und wir fahren raus in die Berge, zum
Stausee oder woandershin. Ganz wie du willst. Aber im Moment …-
Wieder
und wieder hatte sie sich diese Worte in Erinnerung gerufen und nach allen
Seiten gedreht und gewendet. Nichts lieber als! So bald wie möglich!
Wiedersehen! Ein Ausflug in die Berge! Ein Ausflug in die Berge, ein verheißungsvoller
Ausflug in die Berge, wo sie alleine wären, von einem kühlenden Ostwind
umschmeichelt, ergriffen von der grandiosen Bergwelt, den Tälern, Plateaus und
Gipfeln, eingehüllt in eine Stille, von der man in Dereköy nicht ahnen konnte,
dass sie existierte …
Soweit
zum positiven Inhalt seiner Worte. Aber dann gab es da noch Kadir, den
Leibeigenen des selbsternannten Großwesirs, des komiser Dalga. Kadir,
der gleichzeitig auch noch der Leibeigene eines anderen Herren war, zerrissen
und aufgerieben von einem Job, der ihn gängelte und sein wahres Potential
unterdrückte. Dalga würde Kadirs Wissen aufsaugen und jeden noch so kleinen
Teilerfolg als sein eigenes Werk anpreisen.
Nevin
spreizte die Finger auf ihrer ordentlich aufgeräumten Schreibtischunterlage und
betrachtete das goldene Schreibset, das ihr Vater ihr zur Praxiseröffnung
geschenkt hatte. Es war eine Art Versöhnungsgeschenk gewesen und Nevin hatte
es, scheinbar gerührt und bereit zu vergessen und zu verzeihen, dankbar
entgegen genommen. In Wahrheit erinnerte es sie jeden Tag daran, wie tief ihr
Vater sie getroffen hatte und wie sehr sie darauf brannte, dass sich die Dinge
wieder änderten und er ihr, wie früher, jeden Wunsch von den Augen ablas.
Wie
versteinert war sie gewesen, als er ihr damals eröffnete, dass er ihr nicht
helfen würde, ihre Doktorarbeit zu beenden und in Istanbul eine Stelle
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