Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall
nicht einhalten ließe, und obwohl sie
ahnte, dass es falsch war, bedrängte, umschmeichelte und beschimpfte sie ihren
Vater so lange, bis das Zusammenleben für alle im Haus unerträglich wurde. Und
so tat er doch noch einmal etwas für seine Tochter, jedoch etwas anderes als sie
sich vorgestellt hatte: Praxisräume in Dereköy.
Vater
Arslan wollte, dass sie erwachsen und verantwortungsbewusst wurde und hoffte,
dass sie den Ortswechsel als eine Chance begreifen würde, auf sich gestellt und
in einer Umgebung, die so ganz anders war als in Istanbul, fern von ihren High-Society-Freundinnen.
Dort unten an der Küste war es zudem gleichgültig ob man einen Doktortitel
hatte oder nicht, sobald man eine Praxis sein eigen nannte, war man automatisch
die Frau Doktor. Sie konnte in Dereköy in aller Ruhe überlegen, ob sie eine
neue Doktorarbeit anfangen würde. An finanzieller Starthilfe sollte es seiner
Tochter nicht mangeln.
Nevin
hatte den blanken Nagel frei gekratzt und blickte auf. Zekiye steckte den Kopf
durch die Tür.
»Kann
ich den nächsten Patienten bringen?«
»Noch
fünf Minuten, ich bin gleich soweit!«
Nevin
griff hastig nach dem Nagellackfläschchen und begann den Lack in sorgfältigen
Strichen aufzutragen.
Und
obwohl sie ihrem Vater noch von ganzem Herzen für seine Grausamkeit verdammte,
so hatte sich ihre Verbannung, wie sie es insgeheim nannte, doch noch wundersam
ins Gegenteil verkehrt, denn hier und nicht in der Millionenmetropole Istanbul hatte
sie den Mann gefunden, den sie in ihren Mädchenträumen, die damals wie heute
die gleichen waren, nur schemenhaft gesehen hatte. Kadir Bülbül war groß,
gutaussehend ohne auch nur das geringste Aufhebens davon zu machen, er war
intelligent, zärtlich, einfühlsam, und Nevin stimmte mit Latife überein, wenn
diese wieder und wieder betonte, dass sie das herrlichste und schönste
Brautpaar des ganzen Landes würden.
Wenn
er nur endlich begreifen würde, dass auch er sich in ihrem Lebensplan ein
bisschen einfügen und beeilen musste, damit er mit ihr Schritt hielte, denn
hatte sie selbst nicht schon genug unnütze Zeit verplempert? Leibeigener von
Dalga! Wie konnte ein Leibeigner mit ihrem Vater am Kamin lehnen und über
Regierungsgeschäfte plaudern? Mit der Sklaverei musste Schluss sein!
Nevin
schüttelte ihre Hand und bemerkte erleichtert, wie ihre Kopfschmerzen
nachließen. Wie gut, dass Onkel Yusuf, den ihr Vater angerufen hatte, um sich
nach Kadir zu erkundigen, den Neffen in den höchsten Tönen gelobt und ein
wahres Heldenbild von ihm gezeichnet hatte! Nur ihre eigene Meinung hätte beim
Vater wenig Eindruck hinterlassen und er hätte es womöglich unterlassen, Kadir
zu helfen, nur weil er sich geschworen hatte seiner eigenen Tochter nicht mehr
beistehen zu wollen.
Du
hast mir genug Lektionen erteilt, Papa, dachte Nevin und angelte nach dem
Stethoskop. Ich ziehe jetzt wieder die Fäden und du merkst es nicht einmal.
Aber ich werde eine gute Tochter und dir ewig dankbar sein, wenn du aus Kadir
einen Mann gemacht hast, der mit mir auf Augenhöhe ist.
Sie
begutachtete sich schnell in einem seitwärts aufgestellten Spiegel und fand,
dass sie kühl und professionell aussah, das Stethoskop genau in der rechten
Weise lässig um den Hals gelegt, als sei sie gerade in großer Hektik durch
einen langen Krankenhausflur gelaufen um ein Menschenleben zu retten.
Nevin
griff zum Telefon. Ein paar Minuten hatte sie noch. Sie würde sich nicht
abwimmeln lassen, selbst wenn er sein Telefon wieder auf den Empfang umgestellt
hatte, wo sie Gefahr lief, mit dieser schrecklichen Seda sprechen zu müssen.
Aber es war höchste Zeit ihm die
Neuigkeiten zu erzählen, und wenn er keine Zeit hatte sich mit ihr zu treffen,
dann würde sie es ihm eben am Telefon mitteilen! Nevin tippte Kadirs Nummer im
Meridian Palace. Wenn er dort nicht war, würde sie sein Handy anwählen und,
sollte dies auch nicht zum Erfolg führen, riefe sie Latife an. Mutter Bülbül
würde ihren Sohn schon aufspüren, ihre Anrufe würde er nicht wagen wegzudrücken
oder zu ignorieren!
»Kadir,
ein Anruf für Sie, ich denke, es ist wichtig!«
Kadir
betrachtete Renato, der eine Reihe neuer Kostüme probierte, die am Morgen angekommen
waren. Um seinen Kopf hatte er einen Turban aus einer flauschigen Federboa gewickelt,
der auf und nieder hüpfte, während Renato in den Kartons wühlte und mit nicht
enden wollenden Begeisterungsausbrüchen schimmernde Stoffe und Roben hervorzog.
Schon
wieder Nevin?
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