Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall
im
Krankenhaus zu finden. Während ihres ganzen Studiums war sie sich sicher
gewesen, und mit welch lächelnder Verachtung hatte sie auf Kommilitonen aus
einfachen Verhältnissen herabgeblickt, die mit weniger einflussreicher Familie
gesegnet waren, dass sie nicht nur in der besten Klinik am Bosporus landen
sondern auch, dass mithilfe der väterlichen Beziehungen ihre Assistenzarztzeit
verkürzt und der Weg zur Fachärztin sauber planiert würde. Ohne diese Hilfe
wäre ihr exakter Lebensplan, der vorsah noch vor dreißig zu heiraten und Kinder
zu kriegen, denen sie sich ohne Einschnitte in der Karriere widmen wollte,
nicht möglich. Oberärztin dann wenig später, Chefärztin noch diesseits der
vierzig. Eine Villa, ein parkähnliches Grundstück, Personal, Reisen ins
Ausland.
Hunderte
Male hatte sie auf ihrem Bett gelegen und sich die Szene ausgemalt, wie sie mit
ihrem - seinerzeit noch unbekannten - umwerfend gutaussehenden Mann an der
Seite in den Salon ihrer Eltern trat und alle sich nach ihr umdrehten, Männer
im Smoking, Frauen in berückenden, paillettenbesetzten Abendkleidern. Ein
Flüstern, ein Raunen: Oh die Frau Doktor, so jung noch und schon Vorsitzende in
der Ethikkommission der Regierung! Zwei allerliebste Kinder hat sie, ein Junge
und ein Mädchen, und sieht man das ihrer Taille an? Ihr Vater, ebenfalls im
Smoking, würde ihren Gatten beiseite nehmen und über wichtige
Regierungsgeschäfte plaudern, die, selbstverständlich, nur von den beiden
erledigt werden konnten.
Nevins
Blick fiel auf ihren Daumennagel, an dem ein bisschen Nagellack abgeblättert
war. Anstatt den immer griffbereiten Nagellackentferner aus der Schublade zu
holen, angelte sie nach einer Büroklammer und begann über den Nagel zu schaben,
bis hässliche kleine Rillen den Lack verunzierten.
Es
war der Moment gewesen, als sie ihm eröffnete, dass bei den Laborversuchen, die
sie für ihre Doktorarbeit machte, etwas schiefgegangen war. – Genauer
gesagt, Papa, ich bekomme genau die Ergebnisse, die ich durch die Versuche
widerlegen wollte. Wenn ich jetzt noch mal von vorne anfangen und mir ein neues
Thema suchen muss, dann habe ich Monate meines Lebens für nichts und wieder
nichts verschleudert. -
Ihr
Vater hatte kurz seine Zeitung sinken lassen und geantwortet, dass dies dann
wohl so sei. Sie könne doch nicht ernsthaft an ihren Ergebnissen manipulieren! Sie
habe doch alle Zeit der Welt!
Alle
Zeit der Welt!
Nevin
erinnerte sich als sei es gestern gewesen, wie sich ihrer nach und nach Gefühle
bemannten, von denen sie bis zu jenem Zeitpunkt nur gehört und gelesen hatte,
als ihr im Laufe der Wochen klar wurde, dass ihr Vater es ernst meinte. –
Tochter, du warst immer mein Nesthäkchen, mein Augenstern, und ich habe alles
getan, dass du eine glückliche und sorgenfreie Kindheit und Jugend hattest.
Vielleicht war das ein Fehler, vielleicht müssen auch Kinder hin und wieder ein
paar Sorgen ertragen lernen. Vor allem aber müssen sie lernen, dass sie für
Dinge, die sie erlangen und besitzen wollen, auch ein bisschen etwas tun
müssen. Ich habe immer zu deiner Mutter gesagt, dass du so ein verständiges
Mädchen bist, das dies eines Tages von selbst erkennen wird. Ich weiß, dass
viele Väter deiner Freundinnen anders denken, dass sie denken, einem Mädchen
müsse man immer helfen und alle Wege ebnen. Ich möchte, dass du eines Tages
stolz bist auf das, was du geleistet hast und das Letzte, was ich tun werde
ist, deinem Doktorvater zu erklären, dass er deine Arbeit durchwinken soll,
trotz der fehlgeschlagenen Versuche. Denn dies ist mehr als nur ein bisschen
Beziehungen spielen lassen und Wege ebnen – das ist Betrug.
Dies
war ihr größter Fehler gewesen, Nevin wusste es sehr wohl. Die Erkenntnis, dass
seine Tochter in der Lage war, Dinge zu vertuschen und zu betrügen um den Weg
des geringsten Widerstands gehen zu dürfen – das hatte ihren Vater hart und
kompromisslos gemacht. Von einem Tag auf den anderen musste Nevin alleine
durchs Leben gehen, und obwohl sie noch in dem riesigen Zimmer im Haus ihrer
Eltern lebte, wo es ihr an keinem Luxus fehlte und sie nach wie vor nicht für
sich selbst sorgte, spürte sie bald, dass sie ohne die schützende Hand ihres
Vaters zu straucheln begann. Die Doktorarbeit wurde abgelehnt, ihre Stelle im
Krankenhaus lief zum Jahresende aus und niemand intervenierte um sie zu
verlängern. Mit wachsender Panik erkannte Nevin, dass sich nicht nur ihr Zeit-
sondern womöglich ihr ganzer Lebensplan
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