Halva, meine Sueße
ihre
Großmutter ganz allein lebte. Es war mehr als ein Haus. Es
war ein Heim. Bei der Erinnerung daran spürte sie einen
Kloß im Hals.
»Wir leben im Exil«, sagte Baba oft. Sie hatte ihn nie verstanden.
Aber vielleicht war für Raya und ihn kein Haus
mehr ein Heim, seitdem sie Teheran verlassen hatten.
Das Gefühl, gefangen zu sein, hatte Halva nie gekannt. Doch seit Donnerstagabend und dem Berg von Halva, der jetzt im Bio-Container verrottete, war es immer da. Es
schnürte ihr die Luft zum Atmen ab.
Halva lief an dem Container vorbei und gab ihm einen
Tritt. Es hallte blechern, ehe sie zu laufen begann. Der Sonnenschein
lag warm auf ihrer Haut und Halva öffnete die
Lippen. Die Luft strömte in ihre Lungen und schnitt in ihr
Innerstes, aber so heilsam wie ein Messer, das Gift aus einer
Wunde löste. Sie fühlte sich mit jedem Atemzug mehr wie
nach einem Bad, nämlich gereinigt und frisch. Niemand
hatte sie vorhin gefragt, wo sie hinging, und doch hatte sie
sich in der Wohnung ständig beobachtet gefühlt.
War es nur etwas mehr als eine Woche her, dass Mudi
und sie zusammen das Haus verlassen hatten, sorglos und
lachend, um auf die Erstsemesterparty zu gehen? Seitdem
war ihre Welt innen wie außen auf den Kopf gestellt worden.
Wir haben Glück, Mudi. Wir gehören zwei Welten an und müssen
nicht zwischen ihnen wählen.
Galt das noch? Langsam nagten Zweifel an Halva.
Sie hatte Mudi noch nicht wegen der zehn Bleche Halva
angesprochen. Am Morgen danach hatten sie zusammen am
Frühstückstisch gesessen und Mudi hatte die ganze Zeit von
seiner ersten Seminararbeit erzählt.
»Worum geht es denn?«, hatte Raya gefragt.
»Es geht um eine Kiste Wein, die bestellt worden ist, aber
der falsche Wein wurde geliefert.«
»Auweia«, hatte Halva sarkastisch geäußert, doch Mudi
war ihre Ironie vollkommen entgangen.
»Genau. Nun will der Weinhandel nicht umtauschen oder
nachbessern, wie man eigentlich sagt …«, hatte Mudi ihr erklärt. »Wir sollen entscheiden, wer recht oder unrecht hat.
Ganz schön kniffelig.«
Kniffelig? Recht oder Unrecht? Da lachten ja die Hühner.
Vielleicht konnte er bei Gelegenheit auch für sich entscheiden,
ob es richtig war, die eigene Schwester zu belügen und
zu betrügen, hatte Halva vor sich hin gekocht. Ihre Mutter
hatte sie stirnrunzelnd angeschaut. »Du bist so schweigsam,
Halva. Alles in Ordnung?«
Halva hatte ihre Wut hinuntergewürgt. Sie brachte es
nicht über sich, eine solche Diskussion loszutreten. Ihre Eltern
offen der Lüge zu bezichtigen, war für sie undenkbar.
Vielleicht klärte sich ja doch noch alles ganz einfach auf.
Nun wollte sie am Sonntag erst einmal Kai wiedersehen. »Ja,
ja klar. Ich bin nur müde. Es ist gestern spät geworden, bis
die Halva fertig war.«
Mudi hatte ihren durchdringenden Blick gemieden, als er
sich eine ordentliche Portion Ziegenkäse auf sein Fladenbrot
schmierte. Feigling!
Halva spazierte zum Eiskanal. Der Schnee glitzerte wie Diamanten.
Sie dachte an ihren letzten Besuch bei Mamii in
Teheran. Dort hatte der Winter die Stadt und das Leben wie
ein Leichentuch zugedeckt. Hier bauten Kinder Schneemänner,
zogen fröhlich rufend Schlitten zu den kleinen Erhebungen
der flachen Augsburger Ebene und warfen Schneebälle.
Erwachsene schlitterten über den Bürgersteig, der noch
nicht geräumt worden war. Allen schien der sonnige klare
Morgen nach dem Schneefall der vergangenen Tage gute
Laune zu bereiten.
Halva blinzelte in das Licht. Plötzlich schien ihr der Verdacht gegen ihre Familie lächerlich. Vielleicht war doch alles
nur ein Missverständnis, dachte sie. Sie
musste
sich einfach
täuschen.
Der Eiskanal war noch nicht zugefroren und einige Kanuten
waren dort zum Training versammelt. Das Wasser
brauste und strudelte. Halva sah ihnen einen Augenblick zu
und war von ihrer Disziplin beeindruckt. Über den Kanal
waren Schnüre gespannt, von denen lange Stangen hingen.
Sie bildeten die Slalomstrecke. Der erste Fahrer saß in seinem
stromlinienförmigen Kanu und stieß sich ab, als Halva
weiterging. Einige hundert Meter vor ihr glitzerte der zugefrorene
See in der Sonne. An seinem Ufer lag ein altes Haus,
in dem sich ein Café befand.
Als sie an der Eisfläche ankam, sah sie, dass Fischer an
einigen Stellen des Sees den Schnee beiseitegeschoben und
kreisrunde Löcher hineingeschlagen hatten. Das gleißende
Sonnenlicht spiegelte sich auf der glatten Oberfläche.
Halva blieb neben einem der Angler stehen.
»Haben Sie schon was gefangen?«,
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