Halva, meine Sueße
Hosentasche ihrer Jeans, in der
der Brief aus dem Iran steckte. Noch nicht, entschied sie.
Sie brauchte noch einige Augenblicke Seelenfrieden in ihrem
Leben. Wenn Herr Niebusch wieder gegangen war und wenn
Miryam Ruhe hatte. – Und wenn Halva Miryam sagen konnte,
dass sie auf ihrer linken Pobacke einen mehligen Handabdruck
hatte.
Eine Stunde später kühlte die Halva und Miryam hatte mit
beeindruckender Routine die ersten fünfzig Pitabrote gefüllt.
»Komm, wir machen Pause«, schlug Halva vor und sie
setzten sich an den kleinen Küchentisch. Als sie die ersten
Schlucke Tee getrunken hatten, fragte Halva: »Miryam?
Kannst du mir etwas vorlesen?«
»Hm? Kannst du nicht selber lesen? Ich denke, du machst
gerade Abitur.«
»Schon. Aber nicht in Farsi.«
Miryam wischte sich die Hände an ihrer Schürze sauber
und sagte dann: »Gib her. Was ist es denn? Ein Liebesbrief?«
»Kaum.« Halva zog den Brief aus ihrer Hosentasche und
Miryam entfaltete ihn.
Sie runzelte die Stirn. »Der ist doch an meinen Bruder
adressiert. Weiß Cyrus, dass du den Brief hast? Hat er dir
erlaubt, ihn zu lesen?«
Halva beschloss, ehrlich zu sein, und schüttelte den Kopf.
»Nein. Aber ich muss wissen, was darin steht, Miryam. Es
geht hier um alles.«
»Ich weiß nicht, Halva …« Miryam zögerte.
»Es geht um mich. Und um Kai«, sagte Halva und die
Kehle wurde ihr eng.
»Um Kai?«, fragte Miryam misstrauisch und Halva nickte.
Miryam zögerte einen Moment, doch dann seufzte sie.
»Okay, nach gestern Abend verstehe ich – denke ich. Na
dann …« Schweigend las sie die ersten Zeilen. Halva sah ihr
atemlos zu, als alle Farbe aus Miryams Gesicht wich. »Meine
Güte. Allah behüte uns.«
»Was denn? Was ist los?« Halva sprang von ihrem Stuhl
auf und warf dabei beinahe ihre Teetasse um. Das Herz
schlug ihr bis zum Hals. Sie versuchte, etwas von dem zu
erkennen, was da stand, doch die anmutig geschwungenen Buchstaben der iranischen Sprache tanzten vor ihren Augen. »Lies vor …«, drängte sie Miryam mit bebender Stimme.
»Es ist jede Menge Blabla und Floskeln …«, sagte die ausweichend.
»Lenk nicht ab, Miryam. Was kommt nach den Floskeln?
Von wem ist der Brief?«, drängte Halva, obwohl sie die Antwort
bereits erahnte.
»Von einem Mann namens Bijan.«
Bijan.
Der Name war wie ein Geist aus einem früheren
Leben. Halva schluckte und erinnerte sich wieder an die
Worte ihres Vaters: »Wir schulden ihm alles.
Ich
schulde ihm
alles. Irgendwann kann ich ihm das hoffentlich danken.«
Halva suchte Halt am Tresen. Miryams Blick brannte auf
ihrem Gesicht. Was steht da? Sag es mir!, wollte sie schreien.
Doch als sie endlich etwas herausbrachte, war ihre Stimme
nicht mehr als ein Flüstern: »Bijan? Wieso? Warum schreibt
er uns nach so langer Zeit?«
Miryam schwieg einen Moment, bevor sie leise antwortete:
»Weil er Cyrus hier an ein Versprechen erinnert, das er
Bijan gegeben hat. Ein Versprechen, um die Visa für euch
alle zu bekommen. Dein Vater hat dafür einen hohen Preis
gezahlt.«
Halva wurde schwindelig. Sie dachte an den Streit ihrer
Eltern, den sie belauscht hatte – oder eher an die
beiden
Streitigkeiten.
Sie dachte an Mudi, der erst gestern Abend bei ihr
im Zimmer auf ihrem Bett gesessen hatte und der wollte,
dass sie Kai nie wiedersah. Er hatte in dem Moment genau
gewusst, welchen Preis ihr Vater für ihrer aller Freiheit gezahlt
hatte.
»Welchen Preis?«, krächzte Halva.
Miryams Augen füllten sich mit Tränen. Sie umarmte
Halva, die zu zittern begann. Halva spürte Miryams Lippen
an ihrem Haar, als sie sie wiegte.
»Welchen Preis?«, wiederholte Halva. »Sag es mir. Ich will
es hören.«
Miryam schluckte und suchte nach ihrer Stimme, ehe sie
tonlos sagte: »Dich.«
Der Raum drehte sich um Halva. Sie machte sich von
Miryam los und drückte sich die Hände vor die Augen, vor
denen bunte Punkte tanzten. Sicher: Sie hatte etwas in diesem
Brief erwartet. Etwas Großes, Schreckliches, das ihre
Welt erschütterte. Dennoch hatte sie sich keine klare Vorstellung
davon gemacht, was genau es war.
Nun wusste sie es. Sie schüttelte den Kopf, wich zurück
und stieß gegen den Tisch in der Mitte des Raumes. Alles in
ihr meuterte gegen diesen Moment. Nur weg, weg von diesem
entsetzlichen Ort und diesem entsetzlichen Wort: dich.
Dich.
Sie
war der Preis, von dem Mudi gesprochen hatte. Der
hohe Preis für die Freiheit ihrer Familie. Viel zu hoch, entschied
sie augenblicklich.
Unbezahlbar
.
Sie hatte keine Kraft mehr. »Ich muss
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