Hand und Ring
weit größere Enttäuschung, als er hatte eingestehen mögen. Zwar bangte ihm noch immer vor den Enthüllungen, die bei der genaueren Untersuchung der Beweggründe, welche zu dem Verbrechen geführthatten, möglicherweise zu Tage treten könnten, aber doch war es ihm im höchsten Grade peinlich, durch die Anordnung seines Vorgesetzten von der Verfolgung dieses Falles, der ihn so lebhaft beschäftigt hatte, ausgeschlossen zu werden.
Um sich etwas zu zerstreuen und auf andere Gedanken zu kommen, begab er sich in das Gastzimmer hinunter.
Sechstes Kapitel.
Im Gastzimmer befanden sich vielleicht ein halbes Dutzend Gäste. An einem Tischchen abseits von den übrigen saß, in eine Zeitung vertieft, ein fremder Herr, welcher sofort Byrds Aufmerksamkeit auf sich zog. Sein vornehmes, wenn auch etwas verlebtes Aussehen, die schöne, männlich kräftige Gestalt, das krause, lichtblonde Haar, die feinen regelmäßigen Gesichtszüge machten ihn zu einer auffallenden Erscheinung. Auf das Gespräch, das gerade im Gange war, schien er nicht im mindesten zu achten, seine Stirn trug eine tiefe Sorgenfalte, und er verwandte kein Auge von dem Blatt in seiner Hand.
Die übrigen Gäste waren Byrd meist bekannt und ließen sich durch sein Eintreten nicht in der Unterhaltung stören. Er gesellte sich zu der Gruppe, die am andern Ende des Zimmers einen jungen Mann umstand, der die Erzählung, in welcher er eben begriffen war, mit den lebhaftesten Gebärden begleitete.
Ich versichere Sie, hörte Byrd ihn sagen, es war so gut wie ein Auftritt in einem Trauerspiel. Ich habe auf der Bühne kaum je etwas Wirkungsvolleres gesehen. Sie war so schön, so hoheitsvoll, er so düster und entschlossen; beide so voll Angst, voll Schmerz. Sie traten zuverschiedenen Türen ein, er an einem, sie am andern Ende des Wartesaals, und in der Mitte trafen sie zusammen. »Du hier!« rief sie entsetzt und schlug die Hände vors Gesicht, als habe sie ein Gespenst gesehen. »Du hier!« stieß er im gleichen Augenblick heraus und stand da, wie zu Stein erstarrt. »Bist du gekommen, mich aufzusuchen?« flüsterte sie mit einem Ausdruck inneren Grausens. – »Wolltest du zu mir?« fragte er seinerseits voll leidenschaftlicher Qual. – Es erfolgte keine Antwort auf die angstvollen Fragen, beide schauderten zurück, wandten sich und flohen schreckensbleich nach der Seite hin, von der sie gekommen. Die Türen fielen krachend zu, daß das kleine Wartezimmer laut davon widerhallte. Die Szene hat Aufsehen erregt, alle Reisenden blickten einander betroffen an – so etwas war ihnen noch nicht vorgekommen. Mir auch nicht, das muß ich gestehen. Wer weiß, was für eine Unglücksgeschichte solchem Wiedersehen und solchem Abschied zu Grunde liegen mag.
Aber was wurde denn aus den beiden? Sind sie Ihnen nicht wieder zu Gesicht gekommen vor der Abfahrt? fragte einer der Zuhörer gespannt.
Die junge Dame fuhr mit mir im selben Zuge, berichtete der Erzähler, der Herr nach einer andern Richtung.
Wo ist sie denn ausgestiegen?
Das habe ich nicht bemerkt. Sie schien in der trostlosesten Stimmung und wollte offenbar möglichst unbeobachtet bleiben; ich sah noch, wie sie ihren Schleier herunterzog. Um ihr nicht durch meine Gegenwart lästig zu fallen, bin ich im Rauchkupee gefahren.
Nach einigen weiteren Fragen und Ausrufen über das seltsame Abenteuer und seine mögliche Bedeutung zerstreute sich die Zuhörergruppe. Byrd blieb mit dem Erzähler allein.
Wäre ich doch an Ihrer Stelle gewesen und hätte die beiden gesehen, wandte er sich an den Erzähler. Ichhätte die Szene gleich zu einer Skizze für meine Zeitschrift benutzen können.
Zeichnen Sie für Journale? fragte der andere.
Zuweilen, war die gelassene Antwort.
Das muß eine angenehme Beschäftigung sein, wenn man Talent dazu hat.
Byrd sprach die Wahrheit; er hatte sein Geschick im Skizzieren häufig zu einem kleinen Nebenverdienst verwendet. Jetzt nahm er ein Blatt Papier vom Schreibpult.
Sie haben den Auftritt so lebhaft geschildert, ich glaube wahrhaftig, ich könnte ihn wiedergeben, sagte er, den Bleistift aus der Tasche ziehend. Auf welcher Station war es denn?
In Syrakus, entgegnete jener, den Strichen des Stifts mit Interesse folgend.
Und wie war die Dame gekleidet?
In Dunkelblau. Das Kleid paßte ihr wie angegossen. Eine prachtvolle Figur, groß und stark – ich sage Ihnen, eine herrliche Erscheinung. – Ja, das ist ganz ähnlich, so war der Ansatz des Kopfes – merkwürdig, wie gut Sie es getroffen
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