Handbuch für anständige Mädchen
wenn es hier viel schönere Beine gibt, an denen er knabbern könnte«, sagte Captain Wheeler. Er zwinkerte Mrs Ravelston zu, die kreischend auflachte und ihren Sonnenschirm drehte.
»Immer mit der Ruhe«, murmelte Mr Ravelston, ohne den Blick von seinem Teller mit Schinken und Käse zu heben.
»Meine liebe Libby«, rief Mrs Toomey Mrs Birchwoode zu, »meinen Sie, der Tiger beobachtet uns just in diesem Augenblick?«
»Er wird sich nicht einer Gesellschaft dieser Größe nähern«, sagte Captain Lewis. »Zu viel Lärm.«
»Und falls er sich doch entscheidet, zum Mittagessen vorbeizuschauen«, sagte Captain Forbes, der an der Kamera herumfummelte, die er mitgebracht hatte, »werde ich ihn dazu bringen, sich von mir fotografieren zu lassen.«
Mrs Birchwoode, die das Gefühl hatte, bei all dem neckischen Geplänkel zu kurz zu kommen, wählte diesen Moment, um einen spitzen Schrei auszustoßen. »Da ist er! Dort drüben. Schnell! Etwas hat sich im Gebüsch bewegt.«
Etliche Männer sprangen auf. Doch es stellte sich lediglich als Geier heraus, der sich mit einem kehligen Kreischen erhob und durch die Äste des Akazienbaumes verschwand.
»Wie nervös alle sind«, stellte Mr Hunter fest, der sitzen geblieben war. »Vielleicht ist es an der Zeit, den Tiger ausfindig zu machen, anstatt hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass er uns ausfindig macht.«
Allein mit Mr Vine, Selwyn und Mr Rutherford verloren die Damen ein wenig an Esprit. Sie schwatzten über die nahende kalte Jahreszeit in Kalkutta. Mrs Birchwoode und Mrs Toomey hofften, bis spätestens Dezember dort zu sein, während Mrs Ravelston im neuen Jahr in Begleitung einiger Offiziersgattinnen folgen würde.
»Sie werden bis dahin wohl aus Kushpur weggezogen sein, Mr Fraser?«, sagte Mrs Toomey.
»Wir werden im Pandschab sein«, sagte Selwyn. »Nicht wahr, Rutherford?«
»Wie grässlich für Sie, meine Liebe«, sagte Mrs Birchwoode mit gedämpfter Stimme zu Lilian. »Wollen Sie nicht hierbleiben, während Ihr Gatte ins Landesinnere reist? Und Sie haben zu Hause eine unverheiratete Schwester, nicht wahr? Geht es ihr gut? Könnte man sie nicht überreden, anzureisen und Ihnen Gesellschaft zu leisten? Hier draußen herrscht ein entsetzlicher Mangel an Damen, wie Sie wissen.«
»Ich habe keine Ahnung, ob es meiner Schwester gut geht oder nicht«, sagte Lilian düster. »Ich habe seit meiner Abreise aus England nichts von ihr gehört. Abgesehen davon werde ich nicht in Kushpur bleiben, sondern meinen Mann weiter nach Nordwesten begleiten. Natürlich gibt es Entschädigungen – es gibt eine bestimmte Sorte des Blaumohns, die im Vorgebirge dieser Region wächst. Ich hoffe, sie in ihrer natürlichen Umgebung malen zu können. Allein schon aus diesem Grund freue ich mich auf den Pandschab. Meine Schwester ist ebenfalls pflanzenbegeistert und kennt sich mit ihren Namen und Standorten viel besser aus als ich. Zu Hause haben wir uns früher um die Sammlung botanischer Exemplare meines Vaters gekümmert …« Beinahe hätte sie hinzugefügt, dass sie und Alice in der Tat den Blaumohn des Pandschab im Wintergarten gezüchtet hatten; dass sie diese besonderen Blumen bereits in jener künstlichen Umgebung gemalt, und dass Alice ihre dunklen, zarten Blüten und schlanken, geldbeutelartigen Samenköpfe fotografiert hatte. Lilian hatte nicht Mrs Birchwoodes langweiliger memsahib- Unterhaltung bedurft, um sich Alice ins Gedächtnis zu rufen, doch ihr war nicht klar gewesen, welch Vergnügen es ihr bereiten würde, einfach nur über sie zu sprechen. »Meine Schwester würde Indien genauso innig lieben wie ich«, sagte sie.
Doch Mrs Birchwoode hatte sich Mrs Toomey zugewandt. »Esme, meine Liebe, da wir gerade vom Reisen sprechen: Sie müssen mir verraten, wie Sie dieses Jahr nach Kalkutta aufzubrechen gedenken. Doch gewiss nicht per dak ?« Mit einem Schlag diskutierten sämtliche Damen gleichzeitig, wie unzuträglich manche dak- Bungalows seien und wie viele Kleider man für die kommende Saison benötige.
»Wir müssen Ihren Umzug besprechen, Fraser«, sagte Mr Rutherford. »Sie werden nach der Regenzeit aufbrechen, und die wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.«
»Selbstverständlich«, sagte Selwyn. »Mr Hunter hat mir bereits einige Einblicke in den Pandschab gewährt, aber er hat mir nichts erzählt, was ich nicht schon wusste. Mr Vine, Sie möchten vielleicht auch Ihre Meinung kundtun. Was sagen Sie zu der Reise?«
Und so zerfiel die Gruppe in zwei
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