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Handbuch für anständige Mädchen

Handbuch für anständige Mädchen

Titel: Handbuch für anständige Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elaine Di Rollo
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ihrem Gatten auftauchte, das Gewehr an der Schulter anlegte und dem Tiger mitten zwischen die Augen schoss. »Sie können von Glück sagen, dass Sie Ihrem Mann nicht in den Hinterkopf geschossen haben«, meinte er zu ihr.
    »Selwyn war gute fünf Zentimeter weiter links«, erwiderte Lilian.
    »Genial«, sagte Mr Hunter. Er sah sie mit einer Mischung aus Bewunderung und Unglauben an. »Ich bezweifle, dass ich selbst einen solchen Schuss hinbekommen hätte.«
    »Gut gemacht, Mrs Fraser«, sagte Captain Forbes, der Lilians Beine mit unverhohlener Bewunderung betrachtete. Sie hatte sich das Kleid um die Taille gerafft und dort mit einem Stück Schnur festgebunden. »Sind das die Hosen Ihres Gatten?«
    »Ich glaube, es ist sehr schnell gegangen«, sagte Lilian. »Das Tier kann nicht lange Schmerzen empfunden haben.« Sie warf einen Blick auf ihren Ehemann, als er so im Gras neben der massigen Gestalt des Tigers lag, und sie empfand nichts. Sie blickte auf. Mr Hunters Augen ruhten auf ihr, der Ausdruck darin eine Mischung aus Bewunderung und Enttäuschung. Sie wusste genau, was ihm durch den Kopf ging.
    Dr. Mossly hielt Selwyn eine Taschenflasche Brandy an die Lippen.
    Selwyn trank einen großen Schluck und gab ein schwaches Husten von sich. »Ich glaube, meine Rippen sind gebrochen«, stieß er keuchend hervor. »Ich kann kaum atmen. Und … oh! Meine Hand blutet. Sehen Sie nur. Das Untier hat mich gebissen, als ich hingefallen bin. Die Schmerzen sind unerträglich.« Er fing leise im Gras zu schluchzen an. Doch niemand hörte ihm zu. Sobald klar war, dass Selwyn unversehrt war, hatte sich die Aufmerksamkeit aller auf das tote Tier gerichtet.
    Mr Hunter schritt es der Länge nach ab. »Er dürfte gute drei Meter sechzig lang sein von der Schnauze bis zum Schwanz«, sagte er. »Ein riesiges Geschöpf. Er muss wohl hungrig gewesen sein, ansonsten hätte er sich niemals einer solchen Gesellschaft genähert. Es war närrisch von uns anzunehmen, er hätte zu viel Angst, um eine Gruppe von uns am helllichten Tag anzugreifen.«
    »Armes Tier.« Lilian streichelte die sand-orangefarbenen Streifen. »Er hätte im Dschungel bleiben sollen.«
    »Darf ich Sie fotografieren, Mrs Fraser?«, fragte Captain Forbes. »Wie Sie über dem Tiger stehen, mit Ihrem Gewehr.« Er lächelte. »Ich werde es an die Illustrated London News schicken: Mrs Lilian Fraser steht über der Bestie von Kushpur, wenige Minuten nachdem sie eine ganze Teegesellschaft vor dem sicheren Tod bewahrt hat. Was meinen Sie?«
    »Bringen Sie sie wenigstens dazu, diesen Hut abzunehmen«, murmelte Selwyn leise. »Und die Hose.«
    »Sie müssen so bleiben, wie Sie sind, Mrs Fraser«, sagte ein grinsender Captain Forbes. »Vielleicht könnten Sie Ihre Röcke sogar ganz ablegen.«
    Selwyn sackte stöhnend zusammen. »Meine Brust«, keuchte er. »Lilian, hilf mir.«
    Doch Lilian wurde von Captain Forbes in Pose gebracht und hörte ihren Mann nicht. Sie stand mit Captain Wheeler, Mr Toomey und Mr Ravelston auf der einen Seite und Captain Lewis, Mr Birchwoode und Mr Hunter auf der anderen. Der Tiger lag zu ihren Füßen. »Mrs Fraser, stellen Sie Ihren Stiefel auf den Brustkorb der Bestie«, sagte Captain Forbes hinter seiner Kamera. »Jetzt alle völlig still stehen, bis ich sage, dass Sie sich rühren können.«

2
    Selwyn sprach fast die ganze Rückfahrt nach Kushpur über von dem Tiger. Wie das Tier ihn vor dem Sprung angestarrt hatte (hungrig), wie es sich angefühlt hatte, unter seinem gewaltigen Gewicht zerdrückt zu werden (beklemmend), der Geruch seines Atems (faulig), die Beschaffenheit seines Fells (glatt, aber staubig), der Anblick seiner Augen, als sie bloß sieben Zentimeter von seinen eigenen entfernt gewesen waren (furchterregend). Dr. Mossly hatte ihm die aufgeschürfte Hand mit einem Streifen bandagiert, den man von einer Leinentischdecke abgerissen hatte, doch Selwyn zupfte beim Sprechen geistesabwesend daran herum und kratzte sich am Handgelenk, an dem der Verband befestigt war.
    »Ich werde das Untier ausstopfen lassen«, sagte er. »Das ganze Tier. In einer Pose, als setze es gerade zum Sprung an. Das dürfte sich bewerkstelligen lassen, oder etwa nicht? Es muss doch nicht nur der Kopf sein? Allerdings ist der Kopf groß genug. Und er sähe auf einer Tafel über dem Kamin imposant aus. Captain Wheeler meint, es gibt da einen Knaben bei den sepoys, der sich auf derlei Dinge versteht. Gegen ein Entgelt natürlich, aber billiger als auf dem Basar. Und was

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